Scherbengericht: Roman (German Edition)
im Jahr! Die andere Zeit bestand eigentlich nur aus schönen Erinnerungen an die vergangene und den Vorbereitungen auf die nächste Saison. Und Jahr um Jahr – wie morgen wieder – wurde Clementines »Erster Jänner« gefeiert, diesmal ihr neunzigster, und noch dazu am Beginn eines neuen Jahrhunderts. So setzte der Jahresanfang auf dem Tilo-Hof seit Längstem schon mit einem Höhepunkt ein: mit den festlich Tafelnden im Schatten des blühenden Lindenbaums, verköstigt von Trigo mit seinem gekonnt gegrillten Lamm und von ihr, mit den in Liebe und Kunst zubereiteten Antipasti- und Zuckerbäcker-Überraschungen. Und was man nicht alles so im Verlauf der Saison von den anderen aus der weiten Welt erfuhr! Denn obwohl uralt und anscheinend schon gebrechlich, unternahmen diese Leute alljährlich auch noch eine oder gar zwei beschwerliche Weltreisen, etwa nach Ägypten, Indien, Kalifornien, Sankt Petersburg, Rom, Miami, Berlin, Jerusalem, Istanbul, oder zu ihren in der ganzen Welt verstreuten Kindern, und an den langen Abenden erzählten sie einander dann von komplizierten Ehen und Arbeitsverhältnissen, unerzogenen Enkelkindern, guten und schlechten Hotelbetten, exotischen Speisen und prompten Magenverstimmungen, von widerwärtigen Wetterverhältnissen, Flugverspätungen, geschwollenen Füßen in beengenden Flugzeugsitzen, oder sie verrieten einander schmunzelnd die durchtriebenen Geschäfte mit ihren angesammelten Bonusmeilen, um das Upgrading auf einen Platz in der Businessclass zu erlangen, wo es Champagner und die erlesensten Leckerbissen gab, vor allem Lachs, den Rotraud überhaupt nicht mochte. Sie erzählten von Schmutz und Armut auf den Straßen in Indien, von horrenden Preisen in London, vom Café Florian in Venedig, zehnmal so teuer wie die elegantesten von Buenos Aires … Und erst die Ehepaare, die eine Schiffsreise gemacht hatten, im Pazifik, in der Karibik, ja um Kap Horn herum und bis zum Südpol, die konnten überhaupt nicht mehr aufhören mit ihren Schilderungen. Schon allein das Essen … und die Getränkefreiheit, und die hohe See, und die Veranstaltungen an Bord, Zauberer, Pianisten, Komiker, Professoren. Am liebsten aber waren Rotraud die Sommergäste mit viel Kultur, die »Kulturmenschen«. Die lasen wichtige Bücher, berichteten von Theatern, Konzerten, Ausstellungen, und mit der Zeit wurden ihr viele Namen von Dirigenten, Malern, Schriftstellern, Sängern, Schauspielern, ja sogar Philosophen, Wissenschaftlern und Komponisten so vertraut, als hätte sie jemals einen von ihnen gelesen, gehört oder gesehen, wie zum Beispiel diesen zwerghaften Elias Canetti, den sie sich wegen des Vornamens sofort gemerkt hatte. Zum Glück waren gerade ihre vertrautesten Stammgäste, die eigentlich schon zur Familie zählten, Vertreter dieser verehrten Gruppe, wahre Kultur- und Geistesgrößen. Dr. Elias Königsberg, der Seelenarzt und Philosoph, Frau Gretl, eine Kennerin der Literatur und Malerei, der verstorbene Alfredo Holberg, ein begnadeter Zeichner und Cellist, und nicht zuletzt Clementine, die Grande Dame der Musikwelt und sehr belesen; sie stand ihr am nächsten, denn sie brachte ihr Aufnahmen von bester Wiener Musik und wählte Bücher und Dichter für sie aus, die ganz nach ihrem Geschmack waren.
Ohne den ihr entgegenhechelnden Kettenhund zu beachten, betrat Rotraud die Schlachtkammer; die Luft war kühler hier. Es roch nach Gewürzen, vermischt mit dem Gestank der Gedärme. Als sie sich an das Dunkel gewöhnt hatte, gewahrte sie das aufgehängte Lamm. Es erschien ihr klein, und sie überschlug die Zahl der Gäste an der Festtafel: Wir sind dreizehn – oh Gott, das kann doch nicht wahr sein! Diese Unglückszahl! Sie befürchtete schon den Unmut Clementines und hörte geradezu ihren Vorwurf: »Rotraud, kannst du nicht bis dreizehn zählen?« Sollte sie Quique nicht doch auffordern, mit ihnen zu feiern? Vielleicht war Trigo bei seinem Grill voll beschäftigt, und die jungen Leute am Tisch, Katha und Gabriel, kümmerten sich um ihn. Sie würde es mit dem Sohn versuchen. Und wenn Trigo ihn dann fortjagte, waren es immerhin zu Beginn vierzehn Gedecke gewesen. Für alle Fälle mehr Kipflerkartoffelsalat machen, zwei Schüsseln! Dazu werde ich das böhmische Kristall aus der Truhe holen, das wird morgen ein einmaliger Neujahrstag sein, »ein zeitdichter«. Sie tippte in Kopfhöhe an die Lammkeule: Die durchsichtige Haut war schon pergamenttrocken. Beim Ablecken ihrer Fingerspitzen überprüfte sie die salzige
Weitere Kostenlose Bücher