Scherbengericht: Roman (German Edition)
zugewandt, waren an die zwanzig Gestalten auf den üblichen weißen Plastikstühlen platziert. Fast alle drehten ihre Köpfe um, als sie die Tür auf- und zuschnappen hörten. Lauter Indios! Wie schön. Sie nickte ihnen zu und hob in einer entschuldigenden Geste – sie wolle ja nicht unterbrechen – beide Arme.
»Meine Tochter«, erklärte der Vater ihr Erscheinen. Katha setzte sich schnell hinter die Versammelten, die ihr wieder die Hinterköpfe zugekehrt hatten. Rechts an der Wand sah sie einen kleinen Tisch mit Getränkeflaschen und zwei Türmen von Plastikbechern. Mehrere Anwesende hielten bereits solche Becher in der Hand. Offenbar hatte man sich eben erst gesetzt, denn Ing. Jones erklärte, man könne jetzt beginnen, über das Vorhaben zu sprechen. Er wolle zuerst Dr. Martin Holberg von der Stiftung Boden und Frieden und der UNDP das Wort geben. Er sei bekanntlich der Leiter der Expertengruppe, die dieses Entwicklungsprojekt ausgearbeitet habe. Dr. Holberg sei aus Buenos Aires ausschließlich zu dem Zweck angereist, den Gedankenaustausch mit der begünstigten indigenen Gemeinde zu suchen.
Der Vater leierte die üblichen Worte herunter, wie sehr er sich freue, hier zu sein, und dankte für die Einführung des Bürgermeisters und den Anwesenden für ihre Anwesenheit. Dann begann er unvermittelt, über den Mapuche-Begriff chaltumay zu referieren. Darin sehe er die Grundlage für ihr heutiges Zusammentreffen. Man verhandle, weil man das Gesetz der ebenbürtigen Gegenseitigkeit anerkenne. In diesem Prinzip spiegele sich die Weisheit der Mapuche-Kultur, deshalb sei auch ihm, dem Experten, dieses Prinzip heilig. Er spricht nicht, er sagt auf, er liest vom Libretto ab, dachte Katha. Er begegnet den Zuhörern nicht mit dem Blick, er schaut, verloren oder gleichgültig, über ihre Köpfe hinweg. Du kannst aufstehen, Pa, einfach weggehen, jedermann kann deine Präsentation vorführen, ablesen, nachplappern.
Zugleich stieg ihr der Geruch der Versammelten in die Nase. Das ist der gute alte Menschenstallgeruch, empfand sie. So rochen Menschen, die dicht und ständig in ihrem Geruchsraum zusammenleben. Eine Versammlung von Einzelgängern ist geruchsneutral, oder jeder riecht eben ganz individuell vor sich hin. Auch in der Klinik waren sie alle durch einen gemeinsamen Geruch verbunden gewesen, ein Cocktail aus Medikamenten, Reinigungsmitteln und Körpersekreten. Hier verbreiteten die Anwesenden ein seit Urzeiten untereinander abgestimmtes Zusammengehörigkeitsaroma. So drängte man sich und roch man einander schon in den Höhlen, unter Fellplanen, in Laubzelten und Lehmhütten: Wigwam-Dünste, dumpfe Nestwärme unbestimmbarer Zusammensetzung – auch von ständigem Rauch des Feuerplatzes, von brutzelndem Fett, von Tieren: Hunde, Hamster, Hühner, Guanakos, Schafe, Katzen, Schweine, Pferde, Rinder. Katha war es wohlig zumute. Mit diesem gegenseitigen »Sich-Einriechen« war eine wortlose, satte Aufnahme in die Gemeinschaft verbunden. Sie selbst, nur mit ein paar Tupfen Givenchy hinzugetreten, war sogleich eingemischt worden im Gesamtgeruch dieser zwanzig in sich ruhenden und Urausdünstung abgebenden Körper.
Sie unterschied einige Frauen, erkennbar an ihren bunten Kopftüchern. Fast alle hatten, trotz der Wärme im Raum, schwere Ponchos über ihre Schultern geworfen, handgewoben in den Naturfarben der Schaf- und Guanakowolle, weiß und verschiedene Brauntöne. Das Gewebe war von Bändern mit Ornamenten aus Stufen und Kreuzen durchzogen. Schwarze Baskenmützen oder flache Filzhüte bedeckten die Köpfe der Männer; manche aber hatten einfach nur ein gemustertes Stirnband um den Kopf gebunden. In der Mehrzahl trugen sie ihr schwarzes Haar schulterlang; kein Weißhaariger war darunter. Auffallend gleichmäßig gerundet und von gedrungener Breite, diese zwanzig Rücken. Sie bemerkte, dass alle ein grün geheftetes Dokument auf dem Schoß liegen hatten. Feigenblätter. Gewiss wurzelten diese Stammesbrüder und -schwestern mit ihren Füßen im Boden. Turnschuhe trugen sie zwar alle, aber die sahen nicht nach Fortbewegung, nach Laufen und Springen aus. Wenn sie diese Turnschuhe ausziehen, wird man sehen, dass ihre Wurzelzehen, ihre Alraune, in den Boden eingedrungen sind. Dem entsaugen sie die Kraft, die ihre gedrungenen Körperkegel zum Bersten füllt.
Inzwischen leierte der Vater die Vorgeschichte herunter. Bereits vor sechs Jahren seien die Rechte der Ureinwohner offiziell anerkannt und festgeschrieben worden, seien
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