Scherbengericht: Roman (German Edition)
vorüber, rund um den von Gänsen und Enten bevölkerten Teich zu rollen – und das alles in seinem Sinn, nach seinen Ratschlägen, von einem tüchtigen Sohn bestellt sehen. Aufatmend könnte er in die schattige Nussbaumallee einbiegen, vor bis an das Tor des Tilo-Hofes fahren, und zurück. Und manchmal noch könnte er den Pick-up eigenhändig mit den Vorrichtungen steuern, die einzubauen ihnen der Orthopäde bereits geraten hatte – und gegen die sich Trigo immer sperrte.
Sie betrat ihren Gemüsegarten und schaute nach den Erdbeerbeeten. Wie reichlich die Pflanzen dieses Jahr bestückt waren! Viele Früchte lockten bereits in reifen Farben. Und die ersten Himbeeren begannen sich mit rosigem Samt zu umhüllen. Für die Kuchen und Nachspeisen ihrer Sommergäste konnte man gewiss schon einiges zusammenpflücken. Sie wird Mirta darum bitten, wenn sie mit dem Säubern und Wässern der Zypressen-Morcheln fertig ist. Die Zubereitung des Königsberg’schen Pilzgerichts für den Mittagstisch hatte noch etwas Zeit.
Nach dem Durchbruch der Sonne und dem einsetzenden Nordwind war es nun warm geworden. Dieser plötzliche Umschwung ließ das kurze Schnee-Erlebnis von vorhin wie einen erfolglosen Wiederbelebungsversuch des erst kürzlich verstorbenen Winters erscheinen. Das ist halt ein besonders verwirrender Tag heute, sagte sich Rotraud, ein dreifach letzter Tag – im Jahr, im Jahrhundert, im Jahrtausend. Ein »zeitdichter Tag« – sie hatte sich das Wort von Dr. Königsberg gemerkt. Wenn das nur gut geht!
Als sie wieder den Hofplatz erreicht hatte, konnte sie die Strickjacke ausziehen. Im großen Garten hinter dem Gästehaus sah sie Frau Gretl – bereits in Shorts – einen Liegestuhl aufklappen. Dünne, leichenblasse Greisinnenwaden. Sie war wohl schon der »Krückstock« ihres Mannes. Dr. Königsberg war heute erst spät, nach dem Abgang von Clementine, zum Frühstück erschienen. Jetzt brauchte er sicherlich einen langen, ruhigen Vormittag. Sie wusste ja von Frau Gretl, dass er über dem Abschluss des ersten Teiles seines Buches, seiner »Erinnerungen«, saß. Nachmittags könne Eli nicht mehr so gut denken, hatte Frau Gretl Clementine verraten – Rotraud hatte es vom Herd aus gehört. In der Sprechstunde schlafe er manchmal beim Palaver seines Gegenübers ein. Sie sei schon öfter von weiblichen Klienten – denn meistens seien es ja Frauen – unter größter Verlegenheit gerufen worden, mit der Bitte, den Therapeuten zu wecken. Sie habe ihnen dann immer erklären müssen, dass der Doktor keineswegs einnicke, sondern sich in eine Art Trance versetze, um mit der Aura der Klientin in Kontakt zu treten. Das sei die Wahrheit!
Weiter hatte sie Frau Gretl Clementine erzählen hören, dass Eli schon drei Sommerfrischen hindurch damit zugebracht habe, an den Vormittagen über den ersten zweihundertfünfzig Seiten zu brüten: immer nur seine Kindheit und Jugend in Fürth. »Wann wird er zu seinem Medizinstudium gelangen, das er in Wien abgeschlossen hat, bevor der Hitler einmarschiert ist? Und zu unserer Verlobung und der Hochzeit in Deutschkreutz?« Da hatte Clementine unterbrochen: »Alfredo und ich waren dabei!« »Ich weiß«, war Frau Gretl fortgefahren, »aber dann fehlt noch sein ganzes Leben mit mir.« Sie solle ihren Elias nur kräftig antreiben, hörte Rotraud von Clementine, er müsse doch zum Abschluss seiner Erinnerungen noch von ihrem Jubiläum im Dritten Rei… Jahrtausend berichten.
Frau Gretl setzte ungerührt hinzu: »Ach stell dir vor: Bis jetzt habe ich fast zweihundertfünfzig Fürther Manuskriptseiten abgetippt. Aber bittschön, was soll das Schwärmen von Dampfnudeln mit Hiftmark, von Laugenbrezen und vom Ochsenmaulsalat, von den Bächen, Wiesen und Wäldern seiner Kindheit, wenn dann doch alles so entsetzlich schiefgelaufen ist?« »Na hör mal«, hatte Clementine dazu nur bemerkt, und dann waren die beiden alten Frauen in Schweigen versunken. Wie auch immer, sie war jedenfalls stolz darauf, dass dieses Erinnerungswerk des verehrten Mannes auf dem Tilo-Hof entstand und dieser Ort wohl auch erwähnt werden musste, einschließlich Trigo und Rotraud. Erst kürzlich hatte Dr. Königsberg ihnen verraten, was er an den Anfang oder an den Schluss des Buches setzen werde: »Erinnert auf dem Tilo-Hof, Quemquemtréu, Patagonien«. Mein Gott, welch eine Auszeichnung! Und was für eine Werbung für unsere Sommerfrische!
Ja, diese Monate mit den Urlaubsgästen, das waren immer die besten, die aufregendsten
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