Scherbengericht: Roman (German Edition)
Bestimmtheit, die keinen Widerspruch zuließ, wie Worte an einem offenen Grab. Der inzwischen befreite Frauenarm mit dem Schlegel holte zu zwei gedämpften Paukenhieben aus. Diesmal ließ es Lienlaf geschehen und wies sogleich auf die in dem verteilten Dokument skizzierte Karte – »Seite sechs«. In seinem Exemplar, das er zuerst dem Vater und dann der Gemeinde entgegenhielt, hatte er auf der blaugetönten Oberfläche des geplanten Stausees mit roten Kreuzen jene Orte markiert, wo die Ahnengräber der Mapuches lagen – der Vorfahren, die allesamt nun ein zweites Mal sterben würden, »nämlich durch Ertrinken«, wie Lienlaf ergänzte. »Man wird unsere Vorfahren in den Gewässern des Gringosees ersäufen wie einen Wurf kleiner Kätzchen oder wie überzählige Welpen«, veranschaulichte er. »Unsere Urväter und Urmütter aber schauen auf uns herunter, sie erscheinen uns bereits in diesem Saal und flüstern uns zu, was hier gespielt wird, sie warnen und ermahnen uns.« Bei diesen Worten hob er die auf Seite sechs aufgeschlagene Broschüre nach allen Richtungen im Vortragssaal, »Seite sechs!«, befahl er wie ein Lehrer im Klassenzimmer, das große schwarze Auge irrte im Raum umher, und Katha erfasste das Gefühl, dass sich hier tatsächlich mehr als nur die riech- und sichtbaren Gestalten drängten. Sie wusste ja selbst durch ihre jüngsten Erfahrungen: Auch ihre Welt war von Wesen bevölkert, die von anderen nicht gesehen werden konnten.
Wie in Trance gefallen, begann Lienlaf nun, zur Stimme seines Volkes mutiert, die alte Saga. Schon zu Urzeiten, als die huincas in Europa eben noch die letzten Neandertaler gejagt und erschlagen hätten, habe sein Stamm vor einer von Westen heranwogenden Riesenflut fliehen müssen. Bei Weitem nicht alle hätten sich seinerzeit retten können: Viele Frauen, Kinder, Greise seien den Wassermassen zum Opfer gefallen – verschlungen von den wilden Wogen, die eine Riesenschlange aufgepeitscht hatte. Auf ihrer Flucht in den heiligen Osten habe Gott den Überlebenden einen neuen, sicheren Landstrich zugewiesen. Und so seien sie zu den Menschen geworden, die in diesem Boden verwurzelt sind – zu Mapuches eben. Mensch und Boden bildeten eine heilige Einheit. Und siehe da – in der jetzt geplanten Überflutung wiederhole sich aufs Perverseste ihr einstiges Unglück. Und was einstmals eine Riesenschlange war, das sei heute der Imperialismus. Der ferne Ersatz-Landflecken, den ihnen ein falscher Gott verheiße – hier neigte er sich mit einer Hüftdrehung Dr. Holberg zu –, liege im Nordwesten und sei nicht ohne Grund bisher unbesiedelt geblieben. Jedes Kind könne von dort aus den mächtigen Vulkan Chaltén und seinen drohenden, giftige Dämpfe ausstoßenden Krater erblicken – den feuerspeienden Schlund der Schlange. Wer gezwungen sei, dorthin zu ziehen und friedlich ackern wolle, um seine Familie zu ernähren, der schwebe ständig in der Gefahr eines plötzlichen Erwachsens dieses schlummernden Ungeheuers.
Sie beobachtete, wie der Erzähler bei diesen Worten in seiner Schultertasche herumkramte – einem dekorativ gewobenen Sack mit braunen und weißen Sternen, Kleeblättern und Araukarienzapfen – und schließlich einen Stein herausnahm. Es war ein rostbrauner Lavaklumpen. Das Gesicht von Ing. Jones zeigte Erschrecken und drehte sich ihrem Vater zu. Dieser jedoch betrachtete mit interessierter Miene den Brocken, den der Gemeindeobere jetzt allen herumzeigte.
»Ich kenne diesen Stein seit siebzig Jahren«, verkündete der lonko Lienlaf und richtete sich dabei an sie. Wieder begegneten sich ihre Blicke. Sein blindes Auge war zugekniffen, das andere weit aufgerissen, und wirkte in dieser Größe leblos, wie das einer Maske. Auf seinem runden, ebenmäßig braunen Gesicht aber breitete sich ein Lächeln aus, das ihr einladend und heiter, ja weise erschien. Dann richtete Lienlaf das Wort wieder an den Vater: »Vor Tausenden von Jahren hat ihn der Schlangenschlund des Colcurá ausgespien, als Zeichen seiner Gewalt, als Warnung, ihm nicht auf den Leib zu rücken. Dr. Martin Holberg: Wir alle kennen diesen Stein, und tausend weitere Steine. Die geplante Überflutung wird sie bedecken, und ertränken wird sie unsere Vorfahren und alle uns vertrauten Blumen, Sträucher und Bäume, unsere Ruheschatten, den heiligen Maiten-Baum, Gürteltierstollen, Stinktierverstecke, Vogelnester, Fuchsbauten, Krötensümpfe …«
Blumen, Sträucher, Bäume … Katha begann, mitträumend, in Lienlafs langer
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