Scherbengericht: Roman (German Edition)
Aufzählung, die biblisch klang, im Arche-Noah-haften Szenario aufzugehen. Aber die Gemeinschaft brummte zustimmend und nickte. »Und so gründlich kannten sie auch schon unsere Väter und Vorväter, und daher sind sie uns heilig!«, hörte sie Lienlaf etwas abrupt enden. Er hatte sich vorgebeugt und hielt dem Vater den Brocken hin. Der nahm ihn bereitwillig entgegen, prüfte ihn mit hochkonzentriertem Gesicht, als könnte er die verkündete Bedeutung an seiner Oberfläche ablesen – und legte ihn dann, wie ein Kleinod, vorsichtig auf sein Feigenblatt-Dokument.
Zugleich aber hatte der alte Che die Herausforderung angenommen und begann wieder zu sprechen. Seine Erwiderung richtete sich dabei nicht direkt an Lienlaf, sondern wandte sich – indem er seinen Blick schweifen ließ, abwechselnd an jeden Einzelnen, als ob er nur für diesen spräche (sie kannte diesen Trick von seinen Vorlesungen). »Ich muss Ihnen etwas ganz Persönliches vorausschicken. Ich stamme väterlicherseits aus einer alten argentinischen Familie, die, zusammen mit vielen anderen, in den Gründerjahren der Republik – unseres heutigen gemeinsamen Vaterlands –, die Eingeborenen unter falschen Beschuldigungen verfolgt und oft in den Tod getrieben hat. Dies geschah nur im Egoismus, für sich selbst Ackerland und Viehweiden zu erschließen. Das ist eine große historische Schande, und gegenwärtig ist man bereit, das einzugestehen und den Begriff vom gemeinsamen Vaterland umzudenken. Schon mein Urgroßvater hat sich den Naturwissenschaften und dem Studium einer vorurteilsfreien Anthropologie gewidmet, und mein Vater, ein grafischer Künstler, hat mit anerkannter Kunstfertigkeit eine Sammlung von Sagen und Mythen unserer patagonischen puelches illustriert. Nebenbei muss ich der Gerechtigkeit halber wohl bemerken, dass dieser Volksstamm die Ureinwohner auf hiesigem Boden waren, bis sie, vor höchstens vierhundert Jahren, von den aus Chile hereindrängenden Mapuches vertrieben oder unterjocht worden sind.« Er machte die notwendige Pause, um diese ungeheure Beschuldigung gründlich einschlagen zu lassen. Es blieb still, Katha hörte kein Murren. Also fuhr er fort: »Sie sollen wissen, ich selbst habe eine jüdische Frau geheiratet und stehe somit durch Familienbande einem Volk nahe, das im Laufe seiner langen Geschichte den ungeheuerlichsten Vertreibungen und Vernichtungen zum Opfer gefallen ist. Schon allein daher ist es mir naturgemäß selbstverständlich, dass den Ansprüchen aller bedrohten Indigenen, ihren Traditionen und Mythen der größte Respekt gebührt.« Sie konnte ihm kaum noch folgen, das Bild der Mutter drängte sich ihr auf, was schleimte er damit herum? »Ich habe mich in die Weisheit des Mapudungun, eurer heiligen Sprache, vertieft«, hörte sie ihn fortfahren, diesen eitlen Poseur, »und in der Beschwörungskraft seiner Begriffe bin ich einem weisen, tiefsinnigen Menschenbild begegnet. Hierüber habe ich sogar mit einem bekannten Psychoanalytiker gesprochen, und wir haben in der Kultur der Mapuche Parallelen zu modernen Strömungen in der Psychologie und Philosophie entdeckt. Man kann, ja man muss von dem Wissen des Urvolks lernen. Ich habe schon viel von euch gelernt, aber ich muss noch mehr lernen!« Pa, dein Gerede ist wie das Umstoßen einer langen Dominostein-Reihe, dachte Katha. Es ist einfach die Schwerkaft eines Wortes, die auf das nächste fällt, und so fort. Daher hörte sie ihn jetzt sagen: »Eure uralte Kultur ist eine unverzeihlich selten berücksichtigte Wissensquelle, in Wahrheit aber unentbehrlich für die Gestaltung der Gesamtkultur unseres argentinischen Vaterlands, ja Lateinamerikas überhaupt. Gemeinsam betreten wir heute Nacht ein neues Jahrtausend. Unser Treffen an diesem Abend ist ein Auftakt und bietet Anlass, sich geistig darauf vorzubereiten. Ethnische Vertreibung und Menschenvernichtung werden zunehmend international geächtet und geahndet – dafür stehen meine und viele andere Organisationen –, doch die modernen Massenkulturen sind noch längst nicht frei von Diskriminierung und Intoleranz. Schon die trivialsten Anlässe, auch die Gier der Unternehmer und die Dummheit skrupelloser Politiker, können unsere Bemühungen um interkulturelle Toleranz und multikulturelle Zusammenarbeit gefährden oder unter sich begraben. Andererseits aber dreht sich die Menschheit nicht im Kreis, Veränderungen sind ihr eigentümlich und notwendig. Keine Kultur kann ewig und allein auf uralten Zuständen beharren, jede
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