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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Bestandteil der neuen argentinischen Verfassung geworden. Das Prinzip des gemeinschaftlichen Bodenbesitzes der Urbevölkerung sei ausdrücklich erwähnt und als schützenswert deklariert worden. Das gegenwärtige Projekt stelle diese Rechte keineswegs in Frage – es fuße vielmehr darauf. Der geplante kleine Stausee werde die Bewässerung von Hunderten Hektar Land möglich machen und zusätzlich elektrische Energie für alle erzeugen, die auf diesem Landstrich lebten. Der künstliche See werde höchstens zweitausend Hektar unter Wasser setzen und mit der Zeit reich an Lachs-, Regenbogen- und Bachforellen werden. Man müsse dem gegenüber bedenken, dass die Gesamtfläche des Gebiets über hunderttausend Hektar ausmache.
    Nach diesen letzten Worten erklang ein zweifacher, dumpfer Paukenschlag. Der Vater schaute überrascht auf, redete aber nach einer kurzen Atempause weiter. Ein zweiter, härterer Doppelschlag unterbrach nun doch seinen Vortrag. Katha entdeckte sogleich die Frau, die in der ersten Reihe Ing. Jones gegenüber saß und das Instrument in ihrer Armbeuge emporhielt: eine kleine Pauke aus Holz, mit ockergelbem Leder bespannt – die kultrún , die, wie sie wusste, zu zeremoniellen Anlässen der Mapuches benutzt wird. Von ihrem Platz aus konnte Katha nur ein großes Kreuz aus roten Linien auf dem Trommelfell erkennen, nicht aber die kleineren Zeichen in den vier Quadranten, auf die die Frau abwechselnd einschlug, um damit wohl etwas Bestimmtes auszudrücken.
    Nach der zweiten rätselhaften Unterbrechung blieb es einige Augenblicke still. Der Vater kratzte sich abwartend an seinem Kinnbart. Es fiel Katha wieder auf, wie lang der Vater sich seit ihrer Einlieferung in die Klinik das Haar hatte wachsen lassen, und wie sich das nun eingerahmte Gesicht verändert hatte: stets zu einem nachdenklich-traurigen Ausdruck geneigt und zu diesem neugierigen Herumsuchen im Antlitz der Tochter – aber darüber hatte sie sich schon gestern und heute Morgen zur Genüge beklagt. Er war magerer geworden – »abgekämpft«, ging es ihr durch den Sinn. Er stand nicht mehr zu seiner Rolle, der alte Che. Das fühlte sie deutlich.
    Jetzt räusperte sich der Mann, der neben der Kultrún -Trägerin saß, und für den sie offenbar ums Wort getrommelt hatte. Ing. Jones nickte ihm zu: »Ja, Lienlaf?«, und sofort begann der so Genannte zu sprechen. Er stellte sich dem Herrn Doktor als der lonko , als das Haupt der Gemeinde, vor. Katha bemerkte, dass er sehr gewählt und in altmodischen Wendungen sprach, langsam, mit chilenischem Akzent und vielen umständlichen, höflichen Floskeln, als verläse er ein vergilbtes historisches Dokument.
    Er lobte den hohen Vertreter einer angesehenen internationalen Organisation für seine Ausführungen und seine begrüßenswerten Anstrengungen, eine ihm fremde Kultur zu verstehen, und dankte ihm, nicht zuletzt, dass er, in Begleitung von seinem Fräulein Tochter, diese weite Reise unternommen habe, um im fernen patagonischen Huemules mit ihnen zu sprechen – all das wisse die Gemeinde sehr wohl zu schätzen. Noch dazu habe der Besucher diesen Festtag geopfert, an dem man doch eher bei seiner Familie und den engsten Freunden verweilen möchte. »Sie, Herr Dr. und ihr verehrtes Fräulein Tochter.« Er wandte sich für einen Moment ihr zu, und sie sah, dass über seiner linken Iris ein gelber Schleier lag. Umso stärker leuchtete zyklopisch das andere, schwarze Auge. Gleich darauf richtete er es wieder auf den Vater. Er müsse aber jetzt auf den Projektvorschlag in dem vorhin verteilten Dokument kommen, fuhr Lienlaf fort, und könne in Vertretung seiner Gemeinde den hohen Gästen mitteilen, dass dieses Angebot »perfekt« sei. »Perfecto …«, kostete Lienlaf diesen Superlativ noch einmal auf der Zunge aus, in falsetthohem, lobpreisendem Ton, und machte eine Kunstpause. Hastig legte er zugleich die Hand auf den Arm seiner Nachbarin, die eben wieder zu einem Schlag auf ihrem kultrún ausholen wollte. »Perfecto …«, wiederholte er nach dieser Pause zum dritten Mal, als wüsste er nicht weiter vor lauter Befriedigung (es erschien ihr, als würde die ganze Versammlung unter dem Glanz dieser Vollkommenheit den Atem anhalten), und setzte auf einmal viel schneller hinzu: »Perfecto für die Gesellschaft der huincas , für die Gringos, die das Land gekauft haben – kurz, für das ausländische Unternehmen, das uns unseren Besitz entreißen will.«
    Er sagte dies, ohne die Stimme zu heben, aber mit einer

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