Scherbengericht: Roman (German Edition)
gestellt hatten. Und heute, hier in Huemules, die Gringos, mit Pa an der Spitze? Während des eintönigen Liedes entströmte den Singenden weiterer Ur-Odem, und der Wigwamdunst in dem kleinen Raum verdickte sich merklich. Es war wärmer geworden. Ein solches Zusammenriechen ist uns nicht mehr vertraut, dachte Katha. Wir haben zu viel Licht und Seife, wir nähern uns einander durch die oberflächliche Perzeption der Augen und mit unserem hygienischen Abwehrduft – aber ursprünglich ist uns das Begegnen im Zusammenriechen. Das haben wir leider verloren: Die sich riechen mögen, schließen sich zusammen. Und vom Gegenteil sagt man doch immer noch richtig: Ich kann sie oder ihn nicht riechen, oder so. »Hab ich nicht recht, Pa?« – aber diese Frage schickte sie nur in Gedanken nach vorne, zu dem Lauschenden, mit seinem ergrauten Bart und dem Zeugnis der Schlange auf dem Feigenblatt. Sollte sie nicht zu ihm nach vorne gehen? Er brauchte wohl ihren Schutz.
Doch da kündete ein feierlicher, wuchtiger Doppelschlag auf die Pauke das Ende des dumpfen Gesanges an. Die Stimmung erschien Katha gelockerter, der Gesang hatte der Gemeinde wieder die Fassung zurückgegeben. Hoffentlich spricht Pa kein Wort mehr! Die Alte mit dem kultrún setzte sich, und Ing. Jones, der sich während des Chorals unentwegt die Brille geputzt hatte, ermunterte – ja drängte geradezu – einen anderen Vertreter der Indigenen, der unmittelbar vor Katha saß, zur Meinungsäußerung. »Bitte, Huenún, du hast jetzt das Wort!« Der Mann stand auf, legte das Projektpapier auf dem Stuhl ab, zog seine Baskenmütze vom schulterlangen Haar und begann, die Kopfbedeckung mit beiden Händen vor seinem Bauch nach links oder rechts zu drehen, als müsste er ein Boot durch seinen Redefluss steuern. Er sprach in die Richtung des Vaters, ohne ihn anzuschauen. Dem hohen Besucher wolle er versichern, dass auch sie, die Mapuche, obwohl sie ein noch viel älteres Volk seien als der Stamm des Besuchers, mit höchsten Erwartungen über die Schwelle des neuen Jahrtausends treten werden. Sein bescheidener, unterwürfiger Tonfall ödete Katha an. Sie fühlte sich auf einmal schläfrig und merkte erst auf, als Huenún, ohne dass sie sich den Zusammenhang erklären konnte, von einem seiner Söhne sprach. Aillapán, zwölf Jahre alt, habe eine lebensgefährliche Magenoperation überstanden. Für die hohen Kosten sei der Bürgermeister von Huemules, Ing. Jones, persönlich aufgekommen, fügte er hinzu und steuerte jetzt mit seiner Mütze den Wohltäter an. Hätten sie noch im Goldenen Zeitalter der Mapuches gelebt, und die Vorfahren von Ing. Jones im fernen Wales, wäre sein Sohn Aillapán sicherlich gestorben. Also etwas Gutes habe sie schon, die moderne Zeit und das Zusammenleben mit den huincas . Nachdem der Bürgermeister diese Worte offensichtlich erfreut aufgenommen hatte, steuerte Huenún auf den Vater zu. »Andererseits, die ausländische Gesellschaft verlangt von uns, den angestammten heiligen Boden zu verlassen und auf einen fremden, ferneren, nordwestwärts gelegenen zu übersiedeln. Im Interesse unserer Gemeinde liegt das nicht, und außerdem steht das argentinische Gesetz auf unserer Seite. Es ist daher recht und billig, dass wir in dem Projektdokument eine Reihe von Entschädigungsversprechen aufgelistet finden: die Krankenstation, den Telefonanschluss, die Berufsschule, die Wasser- und Stromversorgung, eine Weberei et cetera. Doch wir müssen auch berücksichtigen, dass das uns angebotene Siedlungsgebiet weit abseits von der Ortschaft liegt. Ich habe mir deshalb erlaubt – natürlich in Absprache mit der Gemeinde –, eine zusätzliche Liste von Leistungen aufzustellen, die Bestandteil des Projekts werden müssten.« Bei diesen Worten ging wieder ein wohlgefälliges Gebrumme durch die Reihen. Huenún strich einen zerknüllten Zettel glatt, den er aus der Hosentasche gezogen hatte, und hob die Stimme; nach jedem der aufgezählten Gegenstände schwang mehr Begeisterung in ihr. »Zwei Kleinlaster (vorzugsweise Toyota), ein Leichtmotorrad für jedes Familienoberhaupt (Zanelli, hundertfünfundzwanzig Kubikzentimeter), einen Mitsubishi Pajero (oder ein gleichwertiges Geländefahrzeug) für den lonko , eine kleine Reparaturwerkstatt für die Fahrzeuge und für die landwirtschaftlichen Geräte …«
Im Laufe dieser Aufzählung hatte Katha völlig den Faden verloren. Sie verstand nicht mehr, worüber hier eigentlich gesprochen wurde. Erst die Unterbrechung durch eine
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