Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
Vom Netzwerk:
junge Frau machte sie wieder hellwach: Sie hatte dem Aufzählenden ein paar drohend klingende Worte auf Mapudungun zugezischelt – dann aber sogleich für alle hörbar auf Spanisch gerufen, er, Huenún, solle doch lieber den Mund halten, hier gebe es nichts zu verhandeln. »Der lonko hat unseren Standpunkt den huinca gegenüber deutlich genug gemacht. Die sollen wissen, wir brauchen unsere Zeit.« Nach ihren Worten hatte die wohl kaum Zwanzigjährige die Finger ihrer rechten Hand gespreizt und damit in heftiger Erregung am breiten, braun-weiß gemusterten Stirnband gezerrt. Sie riss es sich vom Kopf und ihr dichtes schwarzes Haar fiel ihr übers Gesicht. Mit Heftigkeit, wie Katha heute den ganzen Tag schon, strich sie sich die Strähnen zur Seite und warf dem Vater nicht nur herausfordernde, sondern, wie es Katha erschien, auch aufmunternde Blicke zu.
    Katha bewunderte das Gesicht der Sprecherin. Es war, trotz des zornigen Einspruchs, unverkrampft, wunderschön harmonisch geblieben, nur aus schrägen Augenschlitzen funkelte es. Keine Spur Make-up und doch gekonnt von Natur aus geschminkt. Über den Augen harmonisch hohe und zu Fäden verdünnt auslaufende Brauen. Samten schimmernd gerundete Backen, eine eher kleine, etwas breite Nase, aber mit sichtbar atmenden, zierlich umwölbten Nasenlöchern. Ihre aufgeworfenen vollen Lippen – blassrot – standen weiterhin offen, auch nachdem ihr Einspruch beendet war, und zeigten große blendend weiße Zähne. Sie schob sich das Band wieder auf den Kopf und richtete mit den Handballen kokett die Frisur zurecht. Verlegen steuerte Huenún seinen Körper aus ihrer Schusslinie. Katha versuchte den Vater zu verstehen. Wie ihr schien, hatte auch ihn der Chorgesang gelockert und Huénuns Bericht vom Menschenfreund Jones war ihm gleichgültig geblieben. Er war sichtlich vom feurigen Auftritt der militanten Mapuche-Schönheit stimuliert. Klasse, klasse, so hätte mich Pa als Kämpferin für die Wal-Minderheit erleben können, wenn Roberto Williams nicht … war dieser Jones, der miese Typ hier, etwa ein getarnter … Auf jeden Fall, der Vater hielt weiterhin den Gesteinsbrocken wurfbereit im Schoß. Ing. Jones konnte sich über den Gesichtsausdruck des Projektleiters nicht klar werden und hoffte wohl, dass dieser etwas zu Huénuns Liste sagen werde. Inzwischen aber war Unruhe unter den bisher so oder so brummenden Anwesenden entstanden, der lonko hatte begonnen, unterstützt von der jungen Frau, an zwei Stangen ein Tuch aufzurollen, ein Transparent wie auf einer Kundgebung. Katha erkannte darin die Fahne des Mapuche-Volkes, bestehend aus drei horizontalen Feldern – oben ein blaues, dann ein grünes und darunter ein rotes – und einer großen gelben Scheibe in der Mitte, die durchkreuzt war von denselben roten Strichen wie die Bespannung der kultrún . Die Quadranten der Scheibe und die schwarzen Streifen, die die Farbfelder am oberen und unteren Rand abschlossen, waren ebenfalls mit den üblichen Symbolen besetzt: weiße Stufen und Kreuze auf den Balken, Sonne, Mond und Stern in jedem Viertel der Sonnenscheibe. Skandierend wiederholten die beiden Träger eine Beschwörungsformel, »Marici wew, marici wew« – »venceremos, venceremos«, übersetzte es ihr Huenún, den sie fragend angestoßen hatte – und hoben und senkten das Transparent, wodurch ein Luftzug durch den stickigen Raum ging; zuerst ein paar, und dann die Mehrzahl der Mapuches stimmten in die Sprüche ein. Die Demo ist noch nicht spitze, da fehlt noch etwas! Sie will ihrer Kameradin helfen. Bevor sich der mundtot gemachte Huenún wieder gesetzt hatte, zog Katha das grüne Heft unter seinem Hintern weg. Sie sprang, die Beute herumwirbelnd, in die Höhe und zerfledderte das Papier mit erhobenen Armen.
    »Ich liebe euch! Ich liebe euren Rhythmus! Ich liebe das Volk der Mapuche!« Dann waren schon einzelne Blätter in Fetzen und flatterten auf die Köpfe der Versammelten. Alle starrten sie an, als sie das Dokument zerriss. Sie suchte den Beifall der Mapuche-Kämpferin und umwarb sie. »Dass du es weißt, ich liebe die Bäume! Ich liebe die Steine! Ich liebe die Wale! Die Urvölker, eure Ahnen – eure Royal Highness wird euch beschützen, wie in Afrika!«
    Inzwischen war auch der Vater aufgestanden. Hatte er gelacht? Sie sah, dass er den Stein des Mythos auf den Boden gelegt hatte und unmittelbar darauf ebenfalls begann, die Broschüre zu vernichten. »Hey, Che, das ist doch super!« Verwirrung breitete sich aus, aber

Weitere Kostenlose Bücher