Scherbengericht: Roman (German Edition)
muss, wenn sie überleben will, Mut zur Begegnung, zur Erneuerung und zur Offenheit aufbringen – so auch die Eure, die der Mapuches.«
Katha hatte in vielen Vorträgen ihres Vaters gesessen. Sie spürte es wie Eiseskälte, dass er, indem er seine Standardformeln wiederholte, seinem kleinen Publikum zunehmend entschwand. Es kam ihr so vor, als würden seine Gesichtszüge immer maskenhafter, leerer. Und zugleich als blähte er sich auf, erhöbe sich ein paar Handbreit über seinen Stuhl. Er, der Botschafter, Interessenvertreter, Gedankenvertreter, Warenvertreter, Schlichter, Vermittler, Zwischenträger, Sprachrohr, Agent, Betrüger … Sie wollte ihm nicht mehr zuhören. Wie heute Morgen, bei der Wal-Manipulation von Roberto Williams und später im Sanatorium der Lady Di, stieg mit der dunklen Gewalt eines Docksider der Verdacht in ihr auf, dass hier wieder die Gehörfolterer am Werk waren und ihren Vater wie eine Marionette manipulierten oder wie eine Plastikpuppe aufpumpten, um sich durch ihn Gehör für ihre Verbrechen zu verschaffen. Sie konnte kaum noch an sich halten, wollte aufspringen und den Vater in seinem Geschwätz unterbrechen. Da bemerkte sie unter den Mapuches unmittelbar vor sich, dass sie ihre Nachbarn mit den Ellbogen anstießen und sich etwas ins Ohr flüsterten. Eine Unruhe ging um unter den Zuhörern, genau wie in ihr eine umtrieb. Und da sprang vor ihr schon einer auf, der – ohne auf eine Worterteilung durch Ing. Jones zu warten – ihren Vater mit einer fetten, gutturalen und überaus sonoren Stimme unterbrach:
»Herr Doktor, erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, dass wir uns hier versammelt haben, um von der Stausee-Überflutung zu sprechen und von dem Land, das uns diese holländisch-amerikanische Gesellschaft rauben will. Wir achten Ihre persönliche Geschichte und die hohe Meinung, die Sie von unserer Kultur haben, aber Sie brauchen uns keinen Honig ums Maul zu schmieren: Wir wissen selbst am besten, was unsere uralte Gemeinschaft wert ist, was wir erlitten haben, welche Rechte uns daraus erwachsen und was wir tun müssen. Darum möchten wir jetzt einmal zur Besinnung unsere Stimmen erheben und Peuma Nehuén singen, die ›Kraft des Traumes‹, die uns auf ewig mit unseren Vätern verbindet.«
Bei diesen letzten Worten hatte sich die Frau in der ersten Reihe schon mit der Pauke in der Armbeuge erhoben. Jetzt erst bemerkte Katha, dass weiße Haarsträhnen sich unter ihrem schwarz-rot gemusterten Kopftuch hervordrängten. Ihr weiter dunkelblauer Rock aber versperrte ihr nun die Sicht auf den Vater. Die Alte begann langsam und rhythmisch die Pauke zu schlagen, und auf ein Kopfnicken hin stimmte die ganze Versammlung in einen langsamen, dem ungeübten Ohr monoton klingenden Gesang ein. Ing. Jones starrte über die Köpfe hinweg, die im Schwung des Paukenschlags hin- und herpendelten. Es fiel Katha auf, dass keiner der Singenden dabei den Blick nach oben richtete, wie in einer Kirchengemeinde, sondern Auge und Gesang dem heiligen Boden zugewandt blieben. Gut, dort hatten sich ihre Alraunenzehen eingegraben. Die Paukenschlägerin begann ihren Rhythmus mit einem Wiegen und Drehen ihrer breiten Hüften zu begleiten. So konnte Katha nun wieder für Momente ihren Vater beobachten. Der hielt seinen Kopf in lauschender Haltung ebenfalls gesenkt und schien dabei den Lavabrocken auf seinem Schoß zu betrachten. Manchmal bewegte er den Oberkörper im Rhythmus des Gesangs. Ja, der schwerfällige Rhythmus stimmte, Begeisterung für das Ereignis stieg in ihr hoch.
Sie hatte schon Aufnahmen dieser Musik im Arbeitszimmer ihres Vaters gehört. Aber wie anders erklang sie ihr jetzt, da sie unmittelbar ringsum angestimmt wurde: Ohne Proben, ohne Aufnahmetechnik, in den verschiedensten heiseren und klaren Stimmlagen drang der Gesang trochäisch aus lange schweigsam gebliebenen Mündern und sich immer wieder freiräuspernden Kehlen. Unter den Worten konnte sie nur trepen heraushören, das etwa »gewahr werden« oder »Wachsamkeit« oder auch »Erwachen« bedeuten konnte. Eben hatte sie miteingestimmt, aber es war ihr eher zum Weinen zumute. Denn unwillkürlich stand ihr das Bild von Big Foot vor Augen, des tödlich verwundeten, mit verrenkten Gliedern in den Schnee gewühlten und dürftig bekleideten Sioux-Häuptlings – und schon schob sie dem Gesang der Mapuches die Worte unter: »Bury my heart at Wounded Knee.« Bei Wounded Knee waren es die Yankees gewesen, die den versprengten Sioux eine Falle
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