Scherbengericht: Roman (German Edition)
und das Internet kennengelernt haben! Wenn ich am End auf die Sendetaste drücke, flitzt mein Text in deinen Briefkasten und Du kannst ihn Dir sofort auf den Bildschirm holen. Diese neuen Chips der Elektronik sind die wahre Frischzellenkur für uns, sage ich immer, und erfolglos, dem Eli. Und wie einem erst das Schreiben erleichtert wird! Wie viel Zeit hätt ich mir früher beim Abtippen von Elis Manuskripten ersparen können! Aber stell Dir vor, unser Dickkopf besteht noch heut darauf, mit der Hand zu schreiben. Jetzt sitzt er an seinem Tischchen im Schlafzimmer, denn dort hab ich ihn gewissermaßen eingesperrt, damit er sein Versprechen wahr macht und seine Erinnerungen an die Jugend in Fürth zu Ende bringt. Fast drei Jahre hat er für seine ersten zwanzig Lenze gebraucht, und das Manuskript ist ihm dabei auf über zweihundert Seiten angeschwollen. Ob er heute endlich den Abschluss schafft, wie er mir hoch und heilig versprochen hat? Gerade heute? Es ist ein Kreuz mit ihm.
Gestern, an Silvester, hat er wieder zu viel Whisky zu einem scheußlichen Haggis getrunken. Aber seine Schwierigkeiten haben wohl mehr mit dem zu tun, was mich heute so entsetzlich bedrückt. Eli fällt es schwer, den Übergang in die Jahre ab ’33 anzupacken. ›Du bist doch kein Proust!‹, habe ich ihm schon oft gesagt. Aber ans Ende der Pubertät zu kommen und dabei zu entdecken, dass man am falschen Ort geboren wurde, ja dass man dort eigentlich gar nicht hätte zur Welt kommen dürfen, und dass einem die Heimat willkürlich aberkannt wird – welch ein Trauma … Und wenn man durch nichts als Glück sein nacktes Leben gerettet hat – wie wir drei –, und dieses später auch noch einigermaßen erfolgreich gewesen ist, dann möchte man doch gerne eine versöhnliche Bilanz ziehen – und weiß zugleich, das geht nicht. Das Grauen holt uns jederzeit wieder ein. Und sei’s nach sechzig Jahren, am Frühstückstisch.
Obendrein ist Eli für jede Ablenkung zu haben. Da wartet er für seine Aufzeichnung unserer englischen Jahre geradezu fiebernd auf Veröffentlichungen aus dem Nachlass von Elias Canetti, auf dessen Erinnerungen an Hampstead. Er glaubt, es müsse etwas über ihn drinstehen, und daran müsse er anknüpfen. Denn wenn auch der Canetti die Psychiater nicht ausstehen konnte, so haben die beiden sich doch mehr als einmal getroffen. Und besonders unvergesslich ist ihm ein Nachmittag in Ansham geblieben, weil da auch Abraham Sonne dabei gewesen ist. Ihr habt’s ja Sonne später noch in Israel getroffen. Die beiden Eliasse haben sich nach London weder wieder gesehen noch Briefe gewechselt; es gibt auch kein Foto von den beiden zusammen. Als der Canetti den Nobelpreis bekam, haben wir ihm ein paar herzliche Zeilen aus Buenos Aires geschrieben. Weil darauf keine Antwort kam, meinte Eli: ›Hera, seine junge Frau, weil die uns nicht kennt, wird die Post gleichgültig in den Papierkorb geschmissen haben.‹
Ich sitz hier vor einem Fenster, das in den Garten hinausgeht, und seh die Vorbereitungen zum Barbecue; hier heißt es asado. Ein langer Tisch steht unter dem blühenden Lindenbaum, von dem ich Dir erzählt hab. Ja, Schwesterherz, dieser schöne Baum macht’s doppelt schmerzlich – auch Du würdest da ständig an die Linde im Hof unseres Elternhauses in Deutschkreutz denken. ›Die Linde ist der Baum der Wohnlichkeit‹, schreibt Adalbert Stifter einmal im ›Nachsommer‹. Wie wahr! Heute will es mir fast so vorkommen, als hätte sich darunter unsere ganze Kindheit und Jugend abgespielt. Wahrscheinlich, weil die paar Fotografien, die ich noch von früher hab’, in unserem Hof aufgenommen worden sind. Auf einer stehst Du neben Mama; Du bist für irgendein Schulfest gekleidet, in burgenländischer Tracht, und hast die Haare zu langen blonden Zöpfen geflochten. Ihr beide lacht, wie man damals noch lachen konnte. Ich aber, die kleinere Schwester, hab wohl nichts damit zu tun gehabt; ich sitz seitlich im Schatten, auf der Bank vor dem Wohnhaus. Die Aufnahme hat sicherlich Papa gemacht, denn die Fabrikmauer, die den Hof abschließt, nimmt viel Platz ein; in Fraktur ist auf ihr zu lesen: ›Webereibetrieb – Jakob Gumbinner & Söhne‹.
Und weil ich jetzt gerade daran denke: Gleich zweimal haben wir 1937 unter dem Baum Hochzeit gefeiert. Du zuerst mit Deinem Moritz im Frühling, dann folgte ich im Herbst mit Eli. Ich hab nur noch das eine Gruppenbild von meinem Fest: Wir sitzen an einem Tisch unter der Linde, und auf beiden Seiten, an
Weitere Kostenlose Bücher