Scherbengericht: Roman (German Edition)
»lieben Enkelsohn«. Sie lade ihn zu ihrem letzten Geburtstagsfest ein, und zugleich hatte sie ihm genaue Instruktionen gegeben, wo, wann und wie er vom Himmel herabzugleiten habe, zur Gaudi ihrer Gäste. Ob sie wohl alle schon unterm Lindenbaum saßen, mit Katha … und dem Vater?
Dann ließ er sich über das Schaler-Nest tragen, über sein Heim, und ganz überraschend, übermächtig, durchfuhr ihn das Bedürfnis, wie die jähen Erektionen, wenn er Mausis Schoßschatten entdeckte, nach all dem, was ihm dort unten so eigen geworden war und was ihn, wie in einer »Schale« – er dachte den Begriff mit Widerstreben –, aufgefangen hatte. Es mochte dieser Fernblick sein, dieser Fokus aus der Höhe auf seine winzige Zufluchtswelt, diese in einer Absturzsekunde erreichbare und für immer verlierbare Heimstatt, was ihn umstimmte. Die Schwestern und Brüder sind meine Familie; das hat nichts mit dem Futterer, mit dem enttäuschenden Meister, mit diesem verrückten Selbstverstümmler zu tun – nur mit Hulda, Anita, Bruno, Andres, Esther, Mausi … Konnte er sie verlassen? Sollten ihn nun wieder die Tage und Nächte der Einsamkeit schlucken, die gähnende Leere des Tages, die unendlichen Stollen der Nacht? Und nicht zuletzt steckten auch seine fünfzigtausend in diesem Bund. Ihr Schwestern, ihr Brüder, ich kann euch nicht entbehren! Sein Zuhause war bei den Schalern. Nur, aus dieser Holzschüssel würde er nicht mehr essen können. Die konnte nur mehr als eine scheußliche Reliquie gelten. Womöglich lag der Meister im Sterben … wie verstört und niedergeschlagen mussten die Geschwister sein. Sollte er sich nicht doch gleich wieder auf den »Monte Verdad« zurücksinken lassen? Zu seiner wahren Familie heimkehren? Ein Wiedersehen mit Katha würde sie vielleicht nur tiefer schmerzen, oder schlimmer noch, enttäuschen. Wieder beisammen, würden sie an die Mutter denken müssen und streiten, über den unmöglichen Vater.
Unschlüssig ließ er sich eine Weile zum See hin tragen. Der Fernblick gegen Westen tat sich auf: An dieser schmalen Senke in den Kordilleren, nach vieltausend Kilometern aufgetürmten Gebirges zwischen Pazifik und Atlantik war ein Bruch entstanden; hier verrieten sich die Spuren einer Sekunde der Erschöpfung beim Hochstemmen der Gesteinsmassen vor Aberhundert Millionen Jahren. Wie wenig hätte damals gefehlt, und heute schwappte und leckte da unten der Pazifik herein, und der See wäre ein Meerbusen, keineswegs mehr so hart und abweisend … Und es gäbe einen Hafen, und alte Geschichten von Walfischfängern, Fleisch- und Woll-Frachtern, Matrosenkneipen und dem ganzen Drumherum.
Auf dem Altimeter las Gabriel: Tausendsiebenhundertsechsundfünfzig Meter. Höher mochte ihn wohl der Luftstrom nicht mehr tragen. Wenn er noch weiter zum See hinausglitt, würde er den Aufwind verlieren, den er zu einer sanften Landung benötigte – beim Geschwisterbund oder auf dem Tilo-Hof.
»Verdammt, ich hänge in der Luft, wo soll ich landen?«, fragte sich Gabriel Holberg ins Blaue hinein.
10
GRETL
Eine halbe Stunde nach ihrer schlimmen Entdeckung am Frühstückstisch setzte sich Gretl Königsberg, geborene Gumbinner, an ihren Laptop. Vorhin noch, als sie Elias den Kaffee und die Brombeermarmeladebrote ins gemeinsame Schlafzimmer gebracht und ihn endlich wieder über seinen Text gebeugt vorgefunden hatte, hatte sie es nicht über sich gebracht, ihm etwas von dem Vorfall zu berichten; das hätte seine Konzentrationsfähigkeit wohl für den Rest des Tages zerstört. An Ilse jedoch musste sie sofort schreiben. Gretls Hände ruhten noch zitternd in ihrem Schoß. Über den Laptop hinweg konnte sie in den Garten und auf Treugotts Lindenbaum schauen. Schließlich richtete sich ihr Blick wieder auf den leeren Bildschirm und den darin pulsierenden Cursor. Sie begann mit ihrem Brief.
»Liebste Schwester, wir werden zwar heute noch telefonieren, aber ich kann diesen Neujahrstag auf dem Tilo-Hof nicht beginnen, und wahrscheinlich nur ertragen, wenn ich Dir zuerst schreibe. Ich muss Dir meine Angst mitteilen: Ich fürchte mich davor, wie der heutige Tag noch enden mag! Und dabei hat’s wieder so sonniges Wetter. Denk Dir nur, erst gestern überraschte uns ein kurzes Schneegestöber, als wäre Patagonien auf einmal nach Nordeuropa verschoben worden. Bei Euch in Ramat Gan ist’s jetzt früher Nachmittag – und, wie ich mir vorstelle, wohl schon ein bisserl winterlich.
Wie gut, dass auch wir, die Uralten, noch den Computer
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