Scherbengericht: Roman (German Edition)
zwei Nebentischen, Familie und Freunde – darunter Clementine und Alberto, der Sohn unseres argentinischen Retters. Auch der Bürgermeister, der Hausarzt, Arbeiter und Arbeiterinnen aus dem Betrieb, ein paar Kinder. Wie oft habe ich manche dieser Gesichter, alle lachend zur Kamera gewandt, später mit einer Lupe studiert! Das war damals zwar ein Moment – aber keine Momentaufnahme. Alle haben vorher noch schnell ihre Frisuren betastet, ihre Einstecktüchlein, Krawatten und Hüte zurechtgerückt, einen Gesichtsausdruck aufgesetzt und sich wohl so ihre Gedanken gemacht – wobei manche sie auch ganz bewusst versteckt haben dürften. Und weißt Du, was ich vor allem entdecken wollte? Die Gesichter der Nutznießer unserer baldigen Vertreibung, auch die der Freunderln und Komplizen. Als hätte man das denen schon ansehen können …
Du kennst ja die letzte Fotografie von Moritz und Dir. Ich weine, wenn ich sie anschau. März 1938. Täuschend zufrieden sitzt ihr beide da auf der Bank, und Du bist mit Benny schwanger, der heute dem Moritz so ähnlich sieht. Wie bedachtsam vorausgeplant und dann blitzschnell man damals gegen uns vorgegangen ist! Keine Berechtigung mehr, den Betrieb zu führen, unermüdliche Bemühungen unseres Vaters bei einer Dienststelle in Wien, um die Enteignung zu vermeiden, ergebnislose Vorsprachen bei den Ämtern. Schnell erlassene Gesetze zur ›Entjudung‹, zur ›Bereinigung und Wirtschaftlichkeit‹ – und plötzlich waren wir arm, ausgestoßen und bedroht. Und naiv ratlos, denn in Deutschkreutz haben sich die Leute uns gegenüber zurückgehalten. Aus Wien haben wir zwar Schauergeschichten gehört, aber in der Hauptstadt war ja immer ein großes Burgtheater. Erst in London haben wir Ausschnitte aus den Tagesschauen gesehen und die ganze Grauenhaftigkeit begriffen, die da in diesen Tagen aufgezogen war: die in Begeisterung verzerrten Gesichter der Massen beim Einmarsch der Wehrmacht, alles beflaggt, in Nahaufnahmen die Frauen, die vor dem Unmenschen in seinem Mercedes niederknien, und das Heil- und Heimkehrgeschrei der Alten, Jungen und Kinder, und dann dieses Meer winkender Hakenkreuzfähnchen in aller Hände.
Dabei können wir, Du, liebes Schwesterherz, und ich, wenigstens trauern. Denn Euch, den Eltern und Dir, hat das Wiener Amt für Jüdische Auswanderung die Reise nach Palästina noch genehmigt. Und Eli und mich hat der argentinische Konsul in Wien, Patricio Holberg, ich will diesen Namen immer wieder ausschreiben, gerettet. Deinen Moritz aber haben sie abgeholt und nach Mauthausen gebracht. Das ist das Grauen, das kein Ende nehmen will und das uns hier – Du wirst es nicht glauben, gerade hier in diesem entlegenen patagonischen Winkel – wieder heimsucht. Nur gut, dass der Enkel des Konsuls heute auch bei uns sein wird. Kommt natürlich zum Geburtstag seiner Mutter. Dass wir uns damals von Southampton nicht gleich nach Buenos Aires einschiffen ließen, sondern in England geblieben sind, war ja gut so, und die Argentinier haben es uns nicht übel genommen. Na, fünfzehn Jahre später haben wir die Reise nach Übersee doch gewagt, aber auf Einladung, und per Flugzeug.
Entschuldige dieses Durcheinander, diese Wiederholungen, weil ich hatte das Bedürfnis, was mir so weh tut, noch einmal zu sagen. Ich musste es mir vor Augen führen, musste es Dir unbedingt vorausschicken, damit Du meinen heutigen Schock verstehst.«
Laute, heftige Worte im Garten. Gretl unterbrach und schaute hinaus. Es war Treugotts Stimme. Eben sprang sein Sohn Quique zum Lindenbaum, unter dem er sich seinem Vater zuwandte. Er hatte seine Daumen in beide Ohren gesteckt und wirbelte mit den übrigen Fingern; dazu riss er die Augen weit auf und streckte die Zunge heraus. Fassungslos beobachtete Gretl die Szene. Treugott, schwer auf seine Krücke gestützt, wollte dem frechen Kerl nachsetzen. Der aber rannte spielend um den großen Tisch herum und schnitt dem Vater aus sicherer Entfernung wieder seine frechen Grimassen. Auch Rotraud erschien jetzt, wohl aus der Küche. Es war, als wände sie sich unter hemmungslosem Gelächter, und wühlte dabei mit den Händen in der Schürze. Ihr war es offensichtlich nur um Treugott zu tun, denn sie packte seinen Arm, zog ihn zurück und an den Grillplatz. Dabei drehte Treugott sich noch einige Male um und schimpfte in die Richtung, in der sein Sohn bereits verschwunden war. Hätte ich doch diese unverwüstliche Fröhlichkeit von Rotraud!, dachte Gretl. Selbst angesichts dieses
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