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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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es geht ihm dabei darum, sich mit ihnen von gleich zu gleich, an einem neutralen Ort, in dieser höllischen Welt zu messen: Keiner kann dem anderen etwas anhaben, jeder muss den anderen ertragen, wie er ist, so grauenhaft es vielleicht sein mag. Aber so ist es eben, fern vom Tatort, lange Zeit nach den Verbrechen. Wenn ich das falsch finde, versteigt sich Eli in Argumente: Er kommt mir mit den Menschen in ihrem Widerspruch, er erinnert an die steinernen Heiligen, die Dämonen und Fratzen der gotischen Kirchen; da seien alle Gegensätze beisammen, wie in der Wirklichkeit. Nur unter seinesgleichen zu leben, das sei eine Forderung der Fundamentalisten jeglicher Couleur. Einmal hat er gemeint, und jetzt bin ich schon wieder seine ›Eckerfrau‹, dieses Sich-zusammen-Ertragen sei die letzte Möglichkeit für unsere Generation, die Verirrungen des Jahrhunderts friedlich auszuleben (von ›bewältigen‹ natürlich keine Rede). Wirklich verändern könnten wir uns eh nicht mehr; und wir hier oben, am Ende unserer Lebenswege, verwirklichten im Mikrokosmos des Tilo-Hofes recht eigentlich eine bewundernswerte Utopie.
    Im Übrigen tippt Eli, was diesen Rohr betrifft, auf eine verschämt unterdrückte homoerotische Neigung nach der alten Fasson, also nicht ausgelebt und voller Frust. Noch dazu ist er mit einer solchen Veranlagung wohl im falschesten Winkel der Welt gelandet. Hier kennt man für diese Neigung nur Spott und Verachtung.
    Aber zurück zu meinem Frühstück und Clementine. ›Was denn – willst du etwa sagen, der Siegmund Rohr sei in Mauthausen postiert gewesen?‹, hab ich sofort, mit sinkendem Herzen und mit wohl auch zitternder Stimme, nachgebohrt. ›Hoppala!‹, hat sie da nur gesagt und sich mit den Fingern leicht auf die Lippen geklopft – aber sonst keine Antwort gegeben! Und darauf hat diese Hexe angesichts meiner Erregung nur mit ihren grauen Schlitzaugen gefeixt und ein kindisches Schmollgoscherl gezogen, so, als hätte ich gegen die guten Sitten verstoßen und eine ungehörige Frage gestellt. Mir blieb der Atem weg, kein Wort brachte ich mehr hervor. Und dabei dachte ich, um ganz ehrlich zu sein, nicht einmal allein an Moritz, sondern auch an Benny, der in seiner leutseligen Art mit diesen beiden, in ein paar Stunden, ein Fest feiern soll. ›Besser, Rohr kommt nicht‹, konnte ich dann gerade noch gegenüber Rotraud hervorpressen. Es muss so verzweifelt geklungen haben, dass die Gute gleich abgewunken hat: ›Ich rufe ihn sowieso nicht mehr an.‹ Clementine sagte nichts mehr. Sie hatte die Arme fest vor der Brust verschränkt und schmollte weiter.«
    Abermals wurde Gretl abgelenkt. Die Tür des Schlafzimmers war geöffnet worden und im Rahmen stand Elias. Er trug ein weites, weißes, kragenloses Hemd und seine safrangelb und karamellbraun karierte Clownshose. Das Hemd stammte aus Bangladesh; die Hose hatte er vor einigen Jahren bei einem Trödler in der Bronx erstanden. Es war Gretl unmöglich gewesen, sie ihm auszureden, geschweige denn zu verhindern, dass er sie zu festlichen Anlässen tatsächlich trug. Eine Duftwolke seines eigenwilligen Parfüms umgab ihn. Das unbändig dichte Haar hatte er wieder straff in den Nacken gebunden. Ein reges Faltenspiel in seinem braunen Gesicht schwankte zwischen Stolz, Freude und Besorgnis.
    »Ich störe dich wohl hoffentlich nicht, Gretli …«
    »Nein, ich schreibe gerade an Ilse. Sag, kommst du von deinem Schreibtisch oder gerade aus dem Jacuzzi?«
    »Von beiden, mein Liebchen; dein Gefangener hat ja nicht einmal die Frühstücksgesellschaft begrüßen dürfen. Und ob du mir glaubst oder nicht, eben habe ich meine Jugenderinnerungen fast abgeschlossen.«
    Wie er das mit »fast« meine, wollte Gretl sofort wissen und drohte, ihn nicht aus dem Zimmer zu lassen.
    »Ich weiß jetzt endlich, wie ich sie abschließen muss. Ich habe soeben die Tür hinter mir noch offen gelassen.«
    Wie denn das mit der Tür, bittschön, zu verstehen sei, fragte Gretl, und, wenn er schon so metaphorisch daherrede, ob er denn einen Schlüssel habe, um sie dann endgültig abzusperren, hinter allen Wassermanns und Kissingers.
    »Keine Anspielungen, Gretli. Vor mir steht bereits der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Als mein Vater die SA und den Pöbel ungestört herumtoben sah, hat er mich sofort überredet, nach Wien zu gehen. Es waren sicher Nazis aus Nürnberg, aber manch einer unserer guten Fürther war auch darunter. Heute kann ich das nicht schreiben, an einem so

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