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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Verbindungsmann unter deutschen und italienischen Nachrichtenzellen im Trentino, dann »Vater des Tourismus« von Quemquemtréu und Gesellschafter Siegmund Rohrs im Hotel »Tirol«, hatte versucht und vermeint, den Führerbau auf dem Obersalzberg, so weit er ihn aus Fotos, Skizzen und Beschreibungen kannte, wenn auch in einem Liliput-Maßstab, nachzubauen. Es gab aber Raum genug für mehrere Fremdenzimmer, und an nostalgischen Gästen mangelte es zu keiner Saison. Sie kamen einfach schon des Hofnamens wegen, und die Gespräche mit dem Hofherrn enttäuschten keinen. Dem alten Fritz also galt Gabriels zweiter Erkundungsbesuch. Schlingernd war ihm dieser, auf seine Frau gestützt, entgegengekommen. Wie jeder Neuankömmling musste Gabriel zuerst das Panorama der Bergwelt um die Seeplatte bewundern. Ein in Zement gegossener Schäferhund wachte an einer Ecke der Balustrade, das lebende Gegenstück beschnupperte den Besucher. Gabriel war von Enzo vorgewarnt worden, dass dem Großvater ein Schlaganfall die rechte Gesichtshälfte hochgezogen und dauerhaft gelähmt hatte; das zwang ihn jetzt, seinen Wotan mit einem kreischenden »Wutan« vom Schnüffeln abzuhalten und seine Frau, die ebenfalls Mausi hieß, als meine »Möische« vorzustellen. Die so Eingeführte übernahm sofort das Wort. Da Gabriel bei seiner Vorstellung Enzo, ihren Enkel, erwähnt hatte, den er vom Paragleiten her in der Ortschaft kennengelernt hatte, erzählte sie ihm, ihr einziger Sohn, Enrico, und dessen Frau – Enzos Eltern – seien Bergführer gewesen und vor Jahren zusammen in einer Gletscherspalte umgekommen. Der kleine Enzo sei dann bei ihnen geblieben, ihr Mann habe energisch darauf bestanden: Der Sohn seines Sohnes durfte und konnte nur von ihm, in seinem »Geist«, erzogen werden, auf keinen Fall von den anderen Großeltern – »Hiesige«, müsse er wissen. Im Laufe der ausufernden Erzählung Möisches beobachtete Gabriel gelangweilt den sichtlich alten Schäferhund. Flocken von Hundehaar, vom Wind bewegt, huschten über die Kalksteinplatten, und auf seinem Körper zeigte sich nackte, graue Haut. Wutan begann, sein juckendes Hinterteil auf den Bodenplatten der Terrasse zu reiben und zog eine Blutspur über den Stein. Gabriel hatte sich baldmöglichst von den Herrschaften des »Berghofs« verabschiedet.
    So kam ich schließlich in den Kreis, erinnerte er sich: in ein von einer Rundmauer umgebenes, burgartiges Gebäude, in dem einst der Waliser Millionär Peter Dafydd sich vor fünfzig Jahren seinen kindlichen Rittertraum erfüllt hatte, Burggraben und Hängebrücke inbegriffen. Das Spottwort ging damals um, mit Peters Whiskykonsum könne man den Graben füllen. Nach seinem Tod aber kaufte der stockabstinente H.-H. Futterer den Erben die Burg und die umliegenden Felder und Wälder ab. In der Schaler-Halle empfing ihn der neue Herr und Meister, und diese erste Begegnung war ihm vorhin wieder so gegenwärtig gewesen.
    Sanft getragen in der Thermik, gab sich Gabriel dem Flug hin. Ein wenig schaukelnd, überließ er sich den Lüften, ihrem Auf und Ab, ein wenig steigend, schwankend, durchsinkend, sich drehend, stets begleitet vom vielfältigen Rauschen und Zittern in den Schnüren und der Spannfläche. Dabei erfüllte ihn das Gefühl der Einmaligkeit: Unmöglich, jemanden durch bloße Schilderung diese Empfindung zu vermitteln, so wenig, wie man einen Drogentrip beschreiben oder einen Orgasmus erzählen kann. Wie konnte das einer mitempfinden, so federleicht und gelassen über all dem Schwerfälligen zu schweben. »Abgehoben!« – ja, das war so ein Wort für das, was hier geschah. Gleichgültig werden im freien Raum, ob Kirschen oder Äpfel reifen, das Vieh weidet, Getreide aus dem Boden schießt, Kartoffeln sich unter der Erde dehnen, kleine und große Gewässer zusammenfließen und gemeinsam in den Pazifik münden, oder ob Mäuse urinieren und den mörderischen Hantavirus unter die Leute bringen.
    Da unten, eine Playmobil-Farm, der Tilo-Hof. Er schätzte, dass er sich zur Seite hin etwas entfernen musste, um die Linde genau angleiten zu können. Von dem winzigen, hufeisenförmig ummauerten Grillplatz sah er einen dünnen Rauchschleier aufsteigen. Einzelne Gestalten, da und dort, unbestimmbare Ameisen. Seit zwei Jahren hatte er kein Fleisch mehr gegessen und keinen Wein mehr getrunken. Damit hatte ihn die Oma herbeilocken wollen? Einen saftigen patagonischen Lammbraten wird’s geben und einen guten Tropfen!, versprach ihm das Billet an den

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