Scherbengericht: Roman (German Edition)
verdorbenen Sohnes und an der Seite ihres invaliden Ehemannes kann sie noch lachen. Kopfschüttelnd fuhr Gretl mit ihrem Brief fort.
»Also heute grillt uns der Hausherr wieder sein Lamm nach patagonischer Art. Clementine feiert ihren Neunzigsten. Aber bei mir wird keine Feststimmung aufkommen. Körperlich ist Clementine für ihr Alter noch erstaunlich rüstig – ich bin zwar ein paar Jahre jünger als sie, aber wie schwach und wie müde! Wenn Eli mich nicht bräuchte … wozu darüber reden? Wir sind hier bei den Laglers in all den Jahren mehr oder weniger dieselbe kleine Tafelrunde geblieben, mit wechselnden weiteren Sommergästen. Diesmal haben wir Deinen Benny mit Sarah dabei, und Martin bringt seine Tochter Katha mit. Über den Tod seiner Frau Judith habe ich Dir berichtet. Sie war eine so sensible Pianistin! Die Tochter soll von dem Verlust schwer mitgenommen worden sein, sie musste für eine Zeit in eine Nervenheilanstalt, in eine ›Irrenanstalt‹, wie es ihre Großmutter so feinfühlig formuliert hat. Auch Kathas Bruder Gabriel soll – laut Clementine – ein ›schwieriger Fall‹ sein, der mit seinem Leben nichts Richtiges anzufangen wisse; in jüngerer Zeit sei er eine Art Fallschirmspringer geworden und einer Sekte beigetreten, die ihr Quartier zufällig hier in der Nähe aufgeschlagen hat. Ich weiß nicht, ob wir ihn heute sehen werden. Der Sektenführer ist einmal zu uns heraufgekommen, ein Spinner, ein Fall für Eli. Martin hat Eli um Hilfe gebeten, aber ich kann Dir nicht sagen, worum es genau geht; Du weißt ja, Eli meint es Ernst mit dem beruflichen Arztgeheimnis. Andererseits scheint aus dieser Beziehung keine richtige Analyse zu werden: Die Holberg-Besuche arten in lange Unterhaltungen aus; ich muss manchmal anklopfen, weil Eli den nachfolgenden Klienten vergessen hat.
Übrigens, ich muss es Dir einmal sagen, bald nach Mittag beginnt Eli stark zu ermüden und nachmittags vergesslich zu werden. Er sollte sich schonen, er macht mir Sorgen. An seiner Seite war ich ein Leben lang Ehefrau, Mutter unserer drei Kinder, Sekretärin, Hausfrau, Beichtmutter, aber auch Krankenschwester und sein Eckermann – seine ›Eckerfrau‹! Du weißt es ja, wenn er in seinen Vorträgen für Heiterkeit sorgen will, gesteht er dem Publikum, dass er sich in komplizierten Fällen mit seiner Pediküre berate. Dass ich nicht lache: Die ›Pediküre‹ bin ich!
Ja, Ilseliebes, ich weiche ab, ich weiche aus – doch ob ich es will oder nicht, ich muss wieder auf Clementine zurückkommen. Geistig ist sie oft schon sehr durcheinander; und das hat heute beim Frühstück, durch Zufall, wohl zu dieser Enthüllung geführt, von der ich Dir berichten muss. Wir gingen mit Rotraud, eher im Spaß, die paar Namen der heutigen Gäste durch. Rotraud meinte, Siegmund Rohr, der bereits einundneunzig ist und in der Nachbarschaft wohnt, werde wohl heuer nicht mehr mit von der Partie sein können, jedenfalls habe er noch nicht zugesagt. Sie wolle ihn etwas später, für alle Fälle, noch einmal anrufen. Und stell Dir vor, da hat Clementine, wie aus dem Schlaf erwachend, plötzlich kreischend ausgerufen, das solle sie nur bitte unterlassen – sie wolle doch sehen, ob der Siegmund ihr so etwas antun könne, wo er doch immer behauptet habe, er sei ›durch und durch Mauthausener Granit‹ … Ilselein, Du kannst Dir ausmalen, wie ich zusammengefahren bin! Wir haben ja in den vergangenen Jahren immer mal wieder vermutet, dass der Rohr – sozusagen vom Typus her – irgendeinen untergeordneten Rang bei den Nazis gehabt haben müsse, vielleicht sogar bei der SS . Aber das war, wie Du Dir vorstellen kannst, niemals Gesprächsthema in unserem Kreis – jedenfalls nicht in Elis und meiner Gegenwart. Außerdem: Rohr lebt hier unter seinem Namen, allein, bescheiden, hat früher ein Hotel betrieben und kümmert sich nur um seine Hunde. Jetzt ist es zwar nur ein Dackel, doch vorher hatte er jahrelang einen deutschen Schäferhund. Irgendwelche antisemitisch klingende Äußerungen haben wir nie von ihm gehört, aber auch das verräterische Gegenteil, den beflissenen Philosemitismus, hat er nie gezeigt. Trotzdem, nach dieser Enthüllung steht er mir geradezu wie eine teuflische Erscheinung vor dem inneren Auge: jung, so wie sie damals aufgetreten sind, gestiefelt und in schlecht sitzender Uniform. Ich werde das Phantom nicht los.
Du weißt ja, bisweilen überkommt Elias eine perfide Lust, mit solchen Menschen engeren Kontakt aufzunehmen. Ich glaube,
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