Scherbenhaufen
Rückwand bleibe ich verblüfft stehen. Die Schwimmweste baumelt fast unmerklich am Riemen hin und her. Das zerbrochene Ruder liegt jetzt am Boden. Warum ist es umgefallen? Habe ich es selbst unbemerkt touchiert? Ist es danach langsam in Schräglage geraten und schließlich auf den Boden gefallen?
Ich habe diesen Gedanken noch nicht fertig gesponnen, da schleifen Schuhsohlen auf dem Betonboden. Aus der gegenüberliegenden Ecke lösen sich zwei Silhouetten, die aufgeschreckt das Weite suchen.
»Halt da!«, rufe ich den Gestalten nach. Meine Aufforderung zeigt keine Wirkung. Die Flucht weckt mein Misstrauen und den Jagdinstinkt gleichermaßen. Ohne Zögern nehme ich die Verfolgung auf.
So weit rechter Hand die Umzäunung eines privaten Grundstücks und der Aarelauf links das Ausscheren verhindert, rennen die beiden Ertappten den Fußweg flussaufwärts. Kopflos spurte ich ihnen nach und bringe dabei bedauerlicherweise ein Kleinkind samt Trottinett zu Fall. Für eine Entschuldigung fehlt die Zeit. Ich behalte die Flüchtenden im Auge. Ihre unterschiedlichen Bewegungsmuster und ein offensichtlicher Größenunterschied lassen mich einen Mann und eine Frau vermuten. Was haben sie auf dem Kerbholz?
Am Ende des weißen Lattenzauns biegt das fliehende Paar nach rechts ab und überquert ungehindert ein freies Rasenstück. Dort wendet sich eine der Gestalten kurz zu mir um. Ich glaube sie zu erkennen. Allerdings verliere ich die Verdächtigen gleich darauf aus den Augen. Kein Grund, die Verfolgung abzubrechen. Wenn ich mich nicht irre, bin ich Niklaus Weihermann und Eva Rechberger auf den Fersen!
An einer alten Platane lehnt ein herrenloses Fahrrad. Ohne Skrupel entwende ich das Gefährt, schwinge mich auf den schmalen Rennsattel und trete wie der Favorit der Tour de Suisse in die rostigen Pedale. Da erst realisiere ich, dass ein undichter Veloschlauch und ein platter Pneu um die Hinterachse eiern. Mit größtem Krafteinsatz suche ich den Mangel wettzumachen. Ich umfahre eine von Efeu überwucherte Villa im Uhrzeigersinn, verfehle haarscharf ein akkurat gehegtes Rosenbeet, verhindere im letzten Augenblick eine Kollision mit einem Robidog und radle schließlich parallel zu einer Bambushecke. Dank meiner verwegenen Fahrweise und der optimierten Routenwahl geraten die Verfolgten erneut in mein Visier.
Sie stürmen entlang des Schiffskanals Richtung Hauptbahnhof. Ich hole auf und reduziere kontinuierlich den Abstand. Noch bevor sie den belebten Bahnhofplatz erreicht haben, werde ich sie eingeholt und zum Stillsand gezwungen haben.
»Haltet sie! Haltet sie!«, fordere ich unbeteiligte Passanten auf, so laut es mein kurzer Atem zulässt.
Auf den Sitzbänken an der Promenade wenden Menschen verwundert ihre Köpfe. Von einer Schülerschar, die beim Wendeplatz der Linienbusse fettige Hotdogs verdrückt, ertönt spontane Begeisterung. Leider ergreifen die jungen Leute nicht für mich Partei. Sie feuern mit ›Hop Schwiz!‹ und ›Seckle, seckle!« Eva Rechberger und Niklaus Weihermann an.
Ich kurve um bepflanzte Blumenkübel, falsch geparkte Autos, irritierte Spaziergänger und posaune mir in Ermangelung einer intakten Fahrradklingel den Weg frei: »Platz da! Macht Platz!«
Der Kapitän der ›Berner Oberland‹ lässt vor Ländte Nummer acht das Schiffshorn erklingen und verpasst der Szenerie einen wirkungsvollen Soundtrack. Die Treibjagd hat sich inzwischen in die Trauerallee verlagert, die nach dem Bau des Hochwasser-Entlastungsstollens von einer Schulklasse gepflanzt worden ist. Noch zirka zehn Meter, und ich werde Eva Rechberger und Niklaus Weihermann zur Aufgabe zwingen. Ich werde sie überholen, vom Rad springen und ihnen den rostigen Klepper vor die Füße schleudern.
In unmittelbarer Nähe zum Ticketcorner der Schiffsbetriebe BLS füttert ein Rentnerpaar ahnungslos weiße Schwäne. Als der Greis das heranstürmende Paar und mein Rufen realisiert, glaubt er seine Heiligsprechung mit einer Wundertat begründen zu müssen. Der Betagte stellt sich den jungen Menschen mit ausgebreiteten Armen entgegen, wie die Jesusstatue auf dem Corcovado bei Rio de Janeiro.
Niklaus Weihermann und Eva Rechberger scheinen wenig beeindruckt. Sie rammen den Alten kurz nacheinander mit voller Wucht. Dieser vollführt zuerst eine halbe Linksdrehung und danach eine Pirouette im Uhrzeigersinn. Dabei verliert er das Gleichgewicht und stürzt in die Arme seiner Ehefrau. Sie hat gerade noch rechtzeitig den weißen Papiersack mit den Brotbrocken in
Weitere Kostenlose Bücher