Scherbenhaufen
Gerichtspräsidenten.
Das Opfer erschien pünktlich. Nichts ahnend, hievte er ein Boot aus dem Lager, bugsierte es ins Wasser, stieg ein und ließ sich ein paar 100 Meter flussabwärts treiben. Danach stemmte sich der Ruderer in die Riemen, skullte gegen den Strom und umfuhr die Kleistinsel.
Sobald der Richter aus Robert Weihermanns Blickfeld entschwunden war, holte auch er ein Skiff.
Adam Füssli befand sich vor Hünibach, als Robert Weihermann das offene Gewässer erreichte. Nach jeder Rollbewegung setzte er die Blätter kraftvoll ins Wasser. Da er logischerweise rückwärts ruderte, konnte er schwer einschätzen, ob er von seinem Opfer bereits bemerkt worden war.
Robert Weihermann sah vor, sein Opfer im Raum Balmholz zu richten. Dort war das Ufer nur dünn besiedelt und die Staatsstrasse hoch oben in der Fluh hinter Tannen verborgen. Das letzte Linienschiff strebte dem Heimathafen zu. Schwer mit Kies beladen, querte ein plumpes Legischiff den See. Vor dem Dörfchen Gunten demonstrierte ein Surfer seine Hartnäckigkeit, indem er ebenso oft das Board erkletterte, wie er zuvor ins kalte Nass geplumpst war. Ob er sich vom Pistolenknall würde ablenken lassen? Der Schuss würde zweifellos weithin hörbar sein. Schallwellen verbreiten sich bekanntlich fast ungehindert über die Wasseroberfläche.
Noch kreuzte im oberen Seebecken ein Segelschiff hart am Wind. Bis die beiden Ruderer dort angelangt waren, hatte sich die Jolle möglicherweise verzogen. Weihermann hoffte, dass auf dem störenden Schiff im entscheidenden Moment das Großsegel knatterte, die Takelage lärmte und der Baum im Lümmellager quietschte.
Robert Weihermann behielt die Szenerie aufmerksam im Auge und setzte seine diskrete Verfolgung zielstrebig fort. Der Abstand zwischen den beiden Gegnern verringerte sich zusehends.
Adam Füssli musste das herannahende Ruderboot inzwischen aufgefallen sein. Er hob zwei asymmetrische Big-Blades aus dem Wasser, ließ den Kahn ausgleiten und streckte den Rücken durch. Hier setzte der Richter für gewöhnlich den Wendepunkt seiner Spritzfahrt. Heute würde dieser zur Richtstätte.
Robert Weihermann beschleunigte seine Fahrt. Als er sich bis auf zehn Meter angenähert hatte, wandte er sich an den schwitzenden Füssli und erhob seine Stimme: »Hallo, Schweißfüssli, ich bringe dir was!«
»Robert, du?«, wunderte sich der Beleidigte. »Was denn?«
Weihermann zückte die Pistole, die er zuvor verdeckt aus Plastik und Tuch gewickelt hatte, und antwortete: »Den Tod, bring ich dir, Adam. Den Tod!«
Danach ging’s schnell. Adam Füssli machte zwar erst den Anschein, als wollte er darauf etwas erwidern. Dazu blieb ihm jedoch keine Zeit mehr. Robert Weihermann hatte bereits eine Ladebewegung gemacht.
Ein Schuss peitschte über das Wasser. Der Schütze geriet ob dem Rückstoß der Waffe derart ins Schwanken, dass er um ein Haar selbst über Bord gegangen wäre. Das Geschoss verfehlte sein Ziel. Die zweite Kugel hingegen riss Adam Füssli glatt den Unterkiefer weg. In einer roten Fontäne flog das Teil horizontal über die Wasseroberfläche und hinterließ ein ungläubig glotzendes Augenpaar in einer halbierten Fratze. Danach kippte Füssli zur Seite und kenterte.
Robert Weihermann vollendete die Tat mechanisch wie ein geistloser Roboter. Der Töpfer war zum Köpfer geworden. Er warf die SIC in den See, paddelte parallel zu Füsslis Skiff und wurde gerade noch gewahr, wie die Leiche mit weit ausgreifenden Extremitäten in die Tiefe sank. Dort sollte sie inmitten degenerierter Felchen und rostender Munitionsdeponien der Schweizer Armee verrotten.
Prüfend blickte der Täter um sich. Musste er sich um unliebsame Zeugen sorgen? Wo blieben die Segler? Was tat der Surfer? Fand das Morden eine Fortsetzung?
Ohne sich weiter um Füsslis herrenloses Boot zu kümmern, ruderte Robert Weihermann los. Je weiter er sich vom Tatort entfernt hatte, desto heftiger legte er sich in die Riemen. Föhn kam auf und peitschte ihm Wasserspritzer ins Gesicht. Der Rächer kämpfte gegen die Böen, die Wellen und das schlechte Gewissen. Wider Erwarten empfand er keine Genugtuung.
In Robert Weihermanns Ohren hallte abermalig der Pistolenknall. Die eine Gewissheit vermochte er nicht mehr zu übertönen: Jetzt ist es passiert!
E N D E
Jetzt fahr’n wir über’n See
(Böhmisches Volkslied aus der Zeit Heinrich von Kleists, Autor unbekannt)
Jetzt fahr’n wir über ’n See, über’n See,
jetzt fahr’n wir über
Weitere Kostenlose Bücher