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Scherbenhaufen

Scherbenhaufen

Titel: Scherbenhaufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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hören?«
    »Schildern Sie mir den Tathergang von der Vorbereitung bis zur Ausführung. Mit überprüfbaren Fakten werde ich die Polizei vielleicht umstimmen und Niklaus entlasten können.«
    Robert Weihermann willigt ein. »Wie Sie meinen. Nie hätte ich erwartet, dass es schwieriger sein würde, meine eigene Schuld zu beweisen, als den Mord zu verüben.«
    Ich suche seinen Blick.
    Der alte Mann beginnt zu berichten: »Das Unheil nahm vor 40 Jahren seinen Anfang.«
     

31
    »Adam Füssli und ich besuchten gemeinsam die Primarschule«, erzählt Robert Weihermann. »Nach der vierten Klasse wechselte Adam, oder Ädä, wie er damals gerufen wurde, in die Sekundarschule. Unsere Wege trennten sich. Ich absolvierte anschließend eine Töpferlehre, besuchte die Fachklasse an der Kunstgewerbeschule Bern und übernahm den väterlichen Betrieb. Ädä schaffte die Matur und studierte Jura.«
    »Sie verloren sich ganz aus den Augen?«, frage ich nach.
    »Nur vorübergehend«, meint Robert Weihermann. »In der Rekrutenschule in Chur kreuzten sich unsere Wege erneut. Im Brennpunkt stand eine junge Frau. Es ging um Therese, meine zweitälteste Schwester.«
    »Hatte sie sich in Adam Füssli verguckt?«
    »Wo denken Sie hin, Herr Feller!«, korrigiert der Töpfer entrüstet. »Das Herz meiner Schwester war für Enrico Da Colla entbrannt, einen italienischen Saisonier. Der Bauarbeiter war vier Jahre älter als sie. Wenn er auf dem Bau lauthals sein ›O sole mio‹ schmetterte, stand Therese an der rot-weiß gestreiften Abschrankung und himmelte ihren Enrico an.«
    »Wussten Ihre Eltern von der Schwärmerei?«
    »Spätestens als Therese den italienischen Liedtext lücken- und pausenlos vor sich hin trällerte.«
    »Und wie reagierten sie?«
    »Entsetzt.«
    »Wegen dem Altersunterschied?«, vermute ich.
    »Nein, nicht deshalb. Die vier Jahre wären in Ordnung gegangen. Der ›Tschingg‹ störte!«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Herr Feller, Ihrem geschätzten Alter nach, müssten Sie sich eigentlich noch an den Spottvers erinnern, der den Gastarbeitern damals nachgerufen wurde.« Robert Weihermann rezitiert in Kauderwelsch: »Tschigge, l’amore di vesta, e frächi Schnurre, das heschta!«
    »Stimmt, das Sprüchlein ist mir bekannt«, gestehe ich. »Wir hielten den Italienern ein freches Mundwerk vor. Dabei waren wir vermutlich bloß verärgert, dass wir ihre Sprache nicht verstanden.«
    »Man hatte sich billige Arbeitskräfte ins Oberland geholt und angenommen, sie würden nach Feierabend brav in den Baubaracken rumsitzen und Bier trinken. Stattdessen verließen sie die Gettos und flanierten am Aarequai.«
    »Die braun gebrannten Gastarbeiter wussten sich herauszuputzen«, bestätige ich. »Sie machten uns Landeiern vor, wie die Aufmerksamkeit des weiblichen Geschlechts zu gewinnen wäre.«
    Robert Weihermann fährt fort: »Erst, als diesseits der Alpen Spaghetti und Pizza auf den helvetischen Menüplan rückten, begannen die Ressentiments gegen unsere südlichen Nachbarn allmählich zu schwinden.«
    Ich bestätige: »Langfristig verschließt sich halt nur Einfalt der Vielfalt.« Dabei kommt mir der BLIGGs Immigranten-Song wieder in den Sinn.
    »Hätte sich das nur auch Adam Füssli zu Herzen genommen. Stattdessen betrieb er gezielten Rufmord. Öffentlich beschimpfte er Therese als ›Tschinggen-Hure‹. Möglicherweise hatte er selbst ein Auge auf sie geworfen.«
    »Haben Sie Adam Füssli mal darauf angesprochen?«
    Der alte Mann blickt mich traurig an. »Unmöglich. Das Schlimmste habe ich Ihnen nämlich noch nicht erzählt, Herr Feller. Enrico Da Colla war gar kein richtiger Fremdarbeiter.«
    »Richtig?«, wiederhole ich.
    »Ich spreche von Legalität«, verdeutlicht Robert Weihermann. »Enrico lebte als Schwarzarbeiter in der Schweiz. Das hatte Adam Füssli irgendwie herausgefunden. Darauf verpfiff der übereifrige Jurastudent den Freund meiner Schwester bei den Behörden. Die Anzeige stellte die beiden vor die Wahl, entweder gemeinsam nach Italien zu ziehen oder die Beziehung zu beenden. Kurz darauf passierte es.«
    Ich blicke ihn fragend an.
    »Das Schlimmste. Es stand im Tagblatt. Ich erinnere mich bis zum heutigen Tag an jedes einzelne Wort: ›Gestern früh ist auf dem Holzsteg im Schilfgürtel des Gwattlischenmoos ein junges Paar tot aufgefunden worden. Aufgrund seiner Lage muss von einer Selbsttötung ausgegangen werden: Fuß an Fuß, sie liegend, er vor ihr sitzend. Es sind drei abgefeuerte Pistolen sichergestellt worden.

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