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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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|7| Marja
    Ich stand neben meinem Vater und beobachtete, wie das Mädchen ertrank. Sie war stark. Ihre Hände versuchten noch immer krampfhaft, sich irgendwo festzukrallen, als ihr Gesicht schon längst unter Wasser verschwunden war, doch sie griffen ins Leere. Das Wasser spritzte derartig, dass eine ganze Herde von Wildgänsen bis auf die Knochen durchnässt worden wäre. Sie wollte am Leben bleiben, aber es gab kein Entkommen aus den Strömungen des Opferteichs.
    Ich wandte den Blick dem noblen Profil meines Vaters zu. Der Mondschein auf seinem düsteren, blassen Gesicht ließ ihn prachtvoll erscheinen. Die Kraft der Sonnwende hüllte ihn in einen Mantel aus Macht. Ich war stolz, an seiner Seite zu stehen als seine Tochter und seine Hohepriesterin. Nur auf ihn kam es an. Nur auf ihn allein.
    Der Todeskampf des Mädchens war beendet. Das aufgewühlte Wasser des Teichs beruhigte sich und glitzerte im silbrigen Schein des beinahe vollen Mondes. Wir beobachteten das Flackern der brennenden Kerzen, die auf ihren Blumenkränzen mit der Strömung den Fluss hinabtrieben. Ein paar der Kränze waren bereits untergegangen, was ihren Eigentümern Schlimmes verhieß. Wahrscheinlich würden sie noch vor der nächsten Sonnwende sterben. Vielleicht gehörte auch einer der Kränze der künftigen Opfermaid?
    Ich spürte, wie sich mein Vater an meiner Seite regte, als auch er in die bernsteinfarbenen Tiefen des Teichs spähte. »Ein schönes Opfer, Marja«, sagte er zu mir. »Du hast es gut gemacht!«
    |8| »Ja«, antwortete ich und schloss die Augen. Die vertraute Ruhe durchströmte mich. Ich war kühl und distanziert. Mir war alles gleich.
    Ich kannte nicht einmal ihren Namen.
    Ich spürte, wie mein Vater neben mir seinen Umhang abwarf und nackt dastand, die Arme dem kühlen Nachtwind entgegengestreckt.
    »Bringe sie zu mir, Marja«, flüsterte er.
    Ich ließ die Augen geschlossen, während ich meine Gedanken zu ihr aussandte. Ich suchte nach ihrem Körper, der sich in den haarähnlichen Ranken am Boden des Teichs verfangen hatte, suchte nach dem Funken Leben, der sich noch darin befand, eingeschlossen, voller Angst gegen seine tote Hülle trommelnd – wie ein Vogel, der im Käfig eingesperrt ist. Ich fasste im Geist danach und trug diesen Funken hinüber, dorthin, wo mein Vater wartend stand. Dann fühlte ich, wie die beiden miteinander verschmolzen, wie ihre jungfräuliche Energie ihn mit einer Macht erfüllte, unter deren Einfluss die Luft, die uns umgab, wie bei einem Gewitter knisterte.
    Er seufzte und kam langsam wieder zur Besinnung. Ich hielt die Augen weiterhin geschlossen, bis er seinen Umhang auf dem feuchten Gras fand und ihn sich um die Schultern legte. So wurde er wieder er selbst. Der Zar. Der Unsterbliche. Der Unbesiegbare.
    Der Untote.
    Wir hörten, wie die Menschen auf der großen Lichtung sangen. Die Feier war in vollem Gang. Bald würden sie damit beginnen, über das Sonnwendfeuer zu springen. Dann, wenn die Nacht am ruhigsten und dunkelsten war, würden sie sich paarweise in den Wald stehlen. »Farnblüten suchen«, so nannten sie das. Jeder wusste natürlich, dass der Farn keine Blüten hat. Doch das jungfräuliche Blut, das in der Nacht der Sonnwende vergossen wurde, leuchtete wie die seltene |9| exotische Blüte wahrer Leidenschaft. Diejenigen, die heute Nacht ihre Farnblüten fanden, waren von Kupalo gesegnet.
    Ich vermochte in dieser Nacht das Flüstern eines jeden Blattes, eines jeden Baumes, einer jeden Blüte im Wald zu vernehmen. In dieser Nacht verbreitete sich die Macht Kupalos ungehindert auf der Welt. Dies war die Nacht, in welcher jeder Geist von der Liebe verschleiert wurde.
    Außer meinem. Die Liebe besaß keine Macht über mich. Mein Geist war frei.

 
    |10|
Ein Jahr später...
Iwan
    Der Raum roch nach Staub und altem Brot. Er wirkte um einiges kleiner als am vorigen Abend. Die Frau – ihren Namen hatte Iwan nicht verstanden – fegte die Asche aus dem großen Kachelofen. In der Ecke dahinter quiekte es plötzlich schrill, und während Iwan die schmutzigen Hände der Frau beobachtete, schoss ein grauer Schatten an ihrem Rock vorbei über den Fußboden. Sie beachtete ihn nicht.
    Iwan rückte sein Bündel von der Wand weg und stützte sich auf einen Ellbogen. Er genoss die Wärme des morgendlichen Sonnenscheins, der durch eine verschmutzte Fensterscheibe hereinfiel.
    Der Mann am Tisch hob den Blick von seinem Krug und sah Iwan an.
    »Wie heißt die auserwählte Opfermaid?«, fragte Iwan.
    Der

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