Scherbenherz - Roman
wunderbar«, sagte Janet. Es war nicht zu übersehen, wie wichtig die »kleine Unterhaltung« offenbar gewesen war. Janet hatte Anne seit Jahren nicht mehr so entspannt erlebt. Ihre Stirnfalten schienen sich wundersamerweise geglättet zu haben, das sonst so vertraute Stirnrunzeln war wie weggewischt. Janet fragte sich flüchtig, worüber die beiden wohl gesprochen haben mochten, kam dann jedoch zu dem Schluss, dass das Nebensache war. Allein die Tatsache, dass dieses Gespräch stattgefunden hatte, zählte.
Janet überlegte, was als Nächstes zu tun sei. Sie wollte vermeiden, etwas Dummes oder Unpassendes zu sagen, das die Stimmung verderben konnte. Dabei hätte sie die Freundin so gern umarmt und ihr gesagt, wie sehr sie sich für sie freute. Aber derartige Bekundungen von Zuneigung hatte es in ihrer Freundschaft bisher nicht gegeben. Allein der Gedanke daran machte sie verlegen.
Schließlich war es Anne, die das Schweigen brach. »Wir haben reinen Tisch gemacht«, erklärte sie. »Es gab da einiges, für das ich mich entschuldigen musste«, fügte sie leiser hinzu. »Dinge, die ich schon viel früher hätte sagen müssen, aber …« Anne zuckte die Schultern. Sie starrte einige Sekunden mit resigniertem Blick ins Leere. Dann schien sie die negativen Gedanken abzuschütteln. »Aber ich habe es damals nicht getan. Jetzt bin ich froh, dass es endlich raus ist.«
Sie schenkte Janet ein hastiges Lächeln. »Du meine Güte, ich muss mich beeilen. Das Eis schmilzt ja schon.«
»Ist nicht wichtig, Anne.« Janet wollte auf sie zugehen, überlegte es sich dann anders und trat nur von einem Fuß auf den anderen. »Ich mache den Wein auf«, erklärte sie, um ihre Unschlüssigkeit zu überspielen. Sie summte leise vor sich hin. Es war eine ärgerliche Angewohnheit, eine Art nervöser Tick, über den sie keine Kontrolle hatte.
Und dann, gerade als Janet das Gefühl hatte, irgendetwas sagen zu müssen, tat Anne etwas vollkommen Unerwartetes. Sie kam auf Janet zu und umarmte sie flüchtig. Diese Geste kam so plötzlich, dass Janet nicht einmal Zeit hatte, den Korkenzieher beiseitezulegen. Sie hielt ihn daher ungelenk von sich weg, um ihn nicht unfreiwillig Anne in den Rücken zu rammen. Die beiden standen einige Augenblicke eng umschlungen. Keine von beiden war diese körperliche Nähe der anderen gewohnt. Dann trat Anne zurück, tätschelte kurz Janets Rücken, und beide vermieden es, sich anzusehen.
Wortlos machten sie sich wieder an ihre praktischen Aufgaben, jeder auf seiner Seite der Küche. Alles, was unausgesprochen blieb, wog schwer.
Einige Minuten später schlug ein Eiswürfel dumpf auf die Arbeitsplatte, den Anne zu hastig herausgedrückt hatte, schlitterte über den Fußboden und hinterließ ein schimmerndes Band, wie die Schleimspur einer Schnecke auf dem Linoleum. Anne bückte sich, um das Stück Eis aufzuheben, doch es flutschte ihr immer wieder aus den Fingern. Anne versuchte hartnäckig, des Eiswürfels wieder habhaft zu werden. »He, komm schon!«, seufzte sie schließlich ungeduldig. Janet sah sie an, sah die Falten auf ihrer Stirn, eine feine Spur aufkommenden Missmutes knapp unter ihrem Haaransatz. Annes Bewegungen wirkten ungelenk und langsam, als sie sich bückte. Ihre Gelenke knackten kaum hörbar, und die Rückenwirbel knarrten leise.
Janet wurde klar, dass auch Anne älter wurde. Die zahl-losen Enttäuschungen des Lebens hatten ihre Spuren hinterlassen, und von Grund auf würde Anne sich nie mehr ändern. Gleichzeitig entdeckte sie an der Freundin einen neuen Zug. Sie sah einen Schimmer Hoffnung, einen noch vagen Hauch von Optimismus. Janet war in diesem Moment zutiefst gerührt. Sie bewunderte Anne dafür, dass sie versuchte, sich um ihrer Tochter willen zu ändern. Und auch selbst wenn Anne das niemals vollkommen gelingen sollte, würde sie den Rest ihres Lebens damit verbringen, es zu versuchen. Und vielleicht war das schon genug.
Janets Augen füllten sich mit Tränen. Sie tat so, als ließe sich der Korken nur schwer aus der Flasche ziehen, damit Anne es nicht merkte.
Das gebratene Hühnchen war ein Erfolg auf ganzer Linie. Janet war überrascht, wie harmonisch der Abend verlief, wie ungezwungen man miteinander sprach. Sie hatte befürchtet, es würde angesichts der Differenzen zwischen Charlotte und Anne und Annes ablehnender Haltung gegenüber Gabriel eine steife, ungemütliche Veranstaltung werden. Tatsächlich war es Gabriel, seine Präsenz, die den Abend ausgesprochen angenehm machte.
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