Scherbenmond
Brennen in seinen Augen, das ihm so eigen war, vermischte sich für einige Sekunden mit einer dunklen, weichen Traurigkeit. »Jetzt habe ich so etwas wie eine große Schwester. Man nimmt, was man kriegt, oder?« Er lächelte schief. »Und ich lasse dich ebenfalls nicht allein, klar?«
»Tu mir das nicht an, Tillmann«, bat ich. »Ich möchte zu ihm. Vielleicht hält es François sogar ab. Du weißt doch, Menschen sollten in Gruppen schlafen ... «
»Merkst du nicht, was du gerade tust? Deine Gedanken kreisen ausschließlich um ihn! Er ist möglicherweise schon unterwegs hierher, kann sie lesen. Ellie, so geht das nicht!«
»Aber was soll ich denn machen?«, heulte ich verzweifelt. »Ich muss zu Paul!«
»Dann gehen wir beide rüber«, beschloss Tillmann und seine Raubtierzähne klackten, als er mich vom Boden hochzog und unter den Arm klemmte. Auch er war angespannt und diese Anspannung minderte sich kaum, nachdem wir zum fest schlafenden Paul geschlichen waren und uns links und rechts neben ihn legten.
»Das ist total irrsinnig, was wir hier tun«, flüsterte Tillmann. Er kochte innerlich. Wahrscheinlich hätte er mir gerne den Hintern verdroschen. »Wir liefern uns ihm aus. Ein reines Selbstmordkommando.«
Ich schob mein Ohr auf Pauls Brust und lauschte seinem Atem und seinem Herzen. Beides ging behäbig und langsam und sofort zog ich meinen Kopf zurück, weil ich ihm keine weitere Last sein wollte. Nun wusste ich, woher der Ausdruck »totenähnlicher Schlaf« rührte. Paul war keinerlei Leben anzumerken. Er hatte nicht einmal gezuckt, als wir zu ihm ins Bett gekrochen waren. Er reagierte auch dann nicht, als ich ihm die Haare aus der Stirn strich und ihn auf die Wange küsste. Doch ein feiner Lufthauch strömte aus seiner Nase. Immer wieder hielt ich meine Finger davor, um sicherzugehen, dass er Schlafes Bruder noch nicht erlegen war.
»Gib mir deine Hand«, forderte Tillmann nach einigen Minuten. Ich gehorchte und legte meinen Arm über Pauls Brustkorb, damit Tillmann sie greifen konnte. Es war ein gänzlich befremdliches Bild, das sich mir bot, als ich zu ihm hinübersah. Er hatte sein Gesicht vertrauensvoll in Pauls Armbeuge gebettet. Tillmann in Pauls Armen. Aber es war auch ein Bild, das ich niemals vergessen würde. Es beruhigte mich sogar ein wenig. Ja, es konnte mich für einen Wimpernschlag ablenken ...
»Es gab eine Zeit vor ihnen«, sagte Tillmann wie zu sich selbst. »Die längste Zeit deines bisherigen Lebens. Du musst dorthin zurückreisen und dich daran festhalten.«
»Da war nichts. Nichts Interessantes«, wisperte ich, obwohl wir unsere Stimmen nicht senken mussten. Paul schlief wie ein Stein. »Nichts, an dem ich mich festhalten wollte.«
»Warst du denn nie vorher verliebt? Also, vor Colin?«, fragte Tillmann ungläubig.
»Doch. Natürlich. Aber ...«
»Dann erzähl mir davon. Wie hast du ihn kennengelernt?«
»Ich ... eigentlich gar nicht.« Meine Mundwinkel zogen sich automatisch nach unten, als ich an Grischa dachte. Noch immer zwickte es ein wenig. »Ich hab ihn immer nur angeschaut. Das war alles. Fast alles.«
»Du hast nie mit ihm geredet?« Tillmann rückte ein Stück näher, um meine Hand an seine Halsbeuge zu legen, und ich spürte sofort, wie die Arterie unter seiner Haut pulsierte, kraftvoll und beinahe hitzig. Das volle Leben. Ich ließ sie dort ruhen und kuschelte mich wie er an Pauls Schulter.
»Nein. Dazu kam es nicht. Das war alles noch in Köln, an meinem alten Gymnasium. Ich wusste, wie er hieß. Jeder wusste das. Grischa Schönfeld. Eigentlich Christian, aber einer wie er hatte natürlich einen Spitznamen.«
Ich hielt inne. Und was für einen schönen Spitznamen. Schön und ungewöhnlich - nicht Chris oder Chrissi, sondern Grischa.
»Es gab da einen Spruch bei den Mädels: schön, schöner, Schönfeld. Stand auf manchen Klos an der Tür. Er war der tollste Typ der Schule. Alles an ihm war besonders.« Ich stockte. Wie sollte ich das nur erklären?
Doch Tillmann ließ nicht locker. »Was genau war besonders?«
Ich seufzte. »Es war zunächst mal sein Aussehen. Die Art, wie er lief. Er gehörte zu diesen Männern, die sich von Natur aus cool bewegen und eine Figur wie ein Model haben, sogar während der Pubertät. Lässig. O-Beine, aber nicht zu krumm, sondern genau richtig. Kerzengerader Rücken und einen wunderbar ausgeprägten Hinterkopf. Kein dümmlicher Flachschädel. Sein Haaransatz war im Nacken spitz zulaufend. Nicht diese Affenauswüchse rechts und
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