Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
mich beschützt, sich hinter mich und vor mich stellt, wann immer es nötig ist, und manchmal auch, wenn es nicht nötig ist. Dass er an mich glaubt. Dass er mein wahres Gesicht kennt und mag und mich ebenfalls für etwas Besonderes hält. Dass er mich hübsch findet. Mir sogar ein bisschen verfallen ist, sodass er nie ein Mädchen küssen kann, ohne dabei kurz an mich zu denken ... Jeder sollte sehen, dass uns etwas Magisches miteinander verbindet. Er sollte mich vor den Zickereien meiner Klassenkameradinnen bewahren und mich verteidigen, wenn sie mich wieder einmal fertigmachten. In meinen Träumen war das so. Wenn ich die Augen geschlossen und Musik gehört habe, war er da.«
    Meine Stimme bebte. Es tat immer noch weh. Verdammt, wie konnte es immer noch wehtun?
    »Und er hat von alldem nie erfahren? Krass«, murmelte Tillmann.
    »Doch, das hat er.« Ich lachte humorlos auf. »Ich hab ihm kurz vor seinem Abitur einen Brief geschrieben. Zwölf Seiten. Zwölf Seiten wirre Gefühlsduselei, die ich selbst nicht erklären konnte. Wahrscheinlich konnte er meinem Namen ja nicht mal ein Gesicht zuordnen ... Ich habe nie eine Antwort bekommen. Sein Abiball war eine Tortur für mich. Er hat die ganze Zeit mit dem hübschesten Mädchen des Jahrgangs getanzt. Die beiden sahen so perfekt miteinander aus. Später stand er an der Theke, als ich mein Glas zurückgab, und ich hab gewagt, Hallo zu ihm zu sagen und ihn anzusehen ... Ich dachte, es ist sowieso egal, was jetzt passiert, denn ab morgen ist er für immer weg ...«
    Ich hatte nie zuvor daran gedacht, mich nie zuvor bewusst an dieses Zusammentreffen an der Bar erinnert. Weil ich diese Szene verdrängte, wo es nur ging. Beinahe hatte ich sie vollkommen gelöscht.
    »Und wie hat er reagiert?«
    »Er hat mich von oben herab angeguckt. Und dann hat er distanziert gefragt: >Kennen wir uns?< Ich kam mir so lächerlich und albern vor. Kennen wir uns! Ich sagte: >Nein, aber ich hab dir mal einen zwölfseitigen Brief geschrieben. Elisabeth Sturm.< Er zuckte mit den Schultern und meinte: >Oh, kann mich gar nicht erinnern.<«
    »Idiot«, murmelte Tillmann. »Ich würde mich an einen zwölfseitigen Brief erinnern. Auch wenn er noch so beknackt war.«
    »Tja. Ich hab nur gesagt: >Er liegt wohl bei all den anderen, die du so bekommen hast in den vergangenen Jahren<, und an der Art, wie er grinste, hab ich erkannt, dass ich recht hatte. Ich war nur eine von vielen gewesen. Eines dieser blöden, unreifen Mädels, die einem Oberstufenschüler hinterherrennen.«
    Ich gähnte herzhaft und meine Hand rutschte von Tillmanns Hals. Er fing sie auf und legte sie auf sein Gesicht. Träumerisch fuhr ich über die knisternden Bartstoppeln auf seiner Wange, die ganz sacht meine Fingerkuppen piksten. Es tat gut, von Grischa zu erzählen. Weil ich dabei nicht allein war.
    »Aber er, er war alles für mich gewesen. Mein ganzes Leben drehte sich um ihn. Um die Idee, die ich von ihm hatte. Denn es war ja nur eine Idee gewesen - ich kannte ihn schließlich nicht. Ich hab einmal bei ihm angerufen. Ich wollte nicht mit ihm sprechen, sondern nur ein Fenster zu seiner Welt öffnen und dann sofort wieder auflegen. Sein Vater meldete sich. Er klang so positiv und ausgeglichen und freundlich! Allein der Elan, mit dem er seinen Namen sagte, hat mich umgehauen ... Grischa war ein Königskind. Fünf Stufen über mir. Unerreichbar. Er wird sicher mal ein wichtiges Tier, studiert BWL oder Jura, macht seinen Doktortitel und leitet dann irgendeinen Konzern ... wahrscheinlich in der Schweiz. Er hat eine bildhübsche Freundin, die ihn über alles liebt, obwohl er nie zu Hause ist, er macht grandiose Skiurlaube und freut sich, wenn er seine Eltern sehen kann ... und ...« Ich gähnte nochmals, dann fielen meine Augen zu.
    »Was würdest du ihm sagen, wenn du ihn sehen könntest? Jetzt? Wenn ihr alleine in einem Raum wärt?«
    »Ich ... ich würde ihn fragen ...« Meine Zunge wurde schwer. »Ich würde ihn fragen, ob ihm klar ist, was er damit anrichtet, nur so zu sein, wie er ist... was es für andere bedeuten kann ... und ich würde ihn fragen, warum er mich angeschaut hat... so lange ...«
    Seine Augen tauchten vor mir auf und ich war wieder vierzehn, stand im lauen Sommerwind, ein halbes Gummibärchen auf der Zunge - ein rotes -, die rechte Hand noch in der knisternden Tüte, die Jenny mir vor die Nase hielt, und es gab nur noch einen Menschen für mich. Eine Sonne. Einen Mond. Mein einziger Stern am finsteren,

Weitere Kostenlose Bücher