Scherbenmond
unendlichen Nachthimmel.
Grischa.
Tag X
»Ellie. Es ist so weit. Wir haben es geschafft. Ellie?«
Das Erste, was ich wahrnahm, war ein beißender Schmerz in meiner rechten Wange, der sofort in die Schläfe schoss, als ich meinen Kopf drehen wollte. Aber ich konnte meinen Kopf nicht drehen. Irgendetwas mit meiner Schulter stimmte nicht. Meine gesamte rechte Körperhälfte fühlte sich wund und zerschunden an. Am gnadenlosesten aber war das Brennen und Ziehen in meiner Wange. Ich versuchte, meine Zähne voneinander zu lösen, und als es mir endlich gelang, glitt ein dicker Fetzen Schleimhaut auf meine Zunge, der sich zwischen meine Kiefer geklemmt hatte. Ich hatte mich selbst zerbissen.
»Wach auf, Ellie. Ist alles okay?«
Tillmann übernahm das Drehen für mich und ich jaulte leise auf, als meine Schulter knackte. Ich beugte mich nach vorne, um den Mund zu öffnen, aus dem sich hellrote Schlieren auf den Boden abseilten. Doch ich musste das tun, so eklig es auch aussehen mochte, denn ich wollte den penetranten Metallgeschmack meines eigenen Blutes loswerden. Tillmann sah mir interessiert dabei zu.
»Aua«, stöhnte ich und presste meine Hand an die Wange. »Kann nicht reden. Mund kaputt.« Während ich sprach, fielen weitere blutige Speicheltropfen auf die Dielen.
»Das kenne ich«, erwiderte Tillmann ungerührt. »Du hast im Schlaf tierisch mit den Zähnen geknirscht. Mach ich auch oft. Und ein bisschen Schwund ist immer.« Nun ja - mit den Zähnen knirschen war die eine Sache. Sich dabei selbst auffressen die andere.
Er reichte mir die Wasserflasche und ich schaffte es, meinen Mund so weit zu öffnen, dass ich ein paar Schlucke trinken konnte. Dann sah ich mich vorsichtig um. Wir befanden uns wieder in Pauls Schreckenskabinett und draußen war die Sonne aufgegangen. Ich konnte die Möwen über dem Haus lärmen hören.
»Er war nicht da, Ellie«, sagte Tillmann mit einem triumphierenden Ausdruck in seinen wachen Augen. »Er ist nicht gekommen. Du hättest gar keine Angst haben müssen.«
Wir, verbesserte ich in Gedanken. Wir hätten keine Angst haben müssen. Tillmann mochte mir viel erzählen, aber spurlos konnte der gestrige Abend kaum an ihm vorübergegangen sein. Doch er hatte einen Weg gefunden, mich abzulenken. Ich war eingeschlafen, während ich an Grischa gedacht und von ihm erzählt hatte.
»Zeig mal.« Tillmann deutete auf meinen Mund. Ich hob abwehrend meine Hand. Ich hasste es, wenn andere in meinen Mund blickten. Das konnte ich lediglich beim Zahnarzt akzeptieren - und selbst dort unter allergrößter Überwindung. Ein Besuch beim Gynäkologen fiel mir leichter. Mein Mund war absolute Privatzone.
»Jetzt hab dich nicht so. Ich will nur gucken ...«
Knurrend gab ich nach. Mein Kiefer knackte, als müsse er dringend geölt werden. Tillmann nahm die Nachttischlampe und leuchtete in meine Mundhöhle.
»Ach du Scheiße ... du hast ja Weisheitszähne. Alle vier. Kein Wunder, dass du dich zerbeißt. Auweia, das wird wehtun.« Er stellte die Lampe wieder auf den Tisch. »Ist schon entzündet.«
Ja, so fühlte es sich auch an. Ich musste mit brachialer Gewalt auf meiner Wangeninnenseite herumgekaut haben. Die Wunde zog sich an mehreren Zähnen entlang, bis ganz hinten zum Gaumen. Sie würde bei jedem Wort schmerzen.
»Und dann noch mein Rücken ...«, klagte ich, als ich mich aufrichtete. Ich probierte es jedenfalls. Doch ich war schief. Ich konnte meinen Kopf nicht mehr gerade halten.
»Du bist auf Pauls Schulter eingeschlafen und warst total verkrampft, als ich dich rübergetragen hab. Wie ein Brett. Zum Glück wiegst du nicht viel.«
Ich stellte beschämt fest, dass ich in diesem Frühjahr trotz meiner täglichen Kampfsporteinheiten verdammt viel durch die Gegend getragen wurde. Und nun war es schon wieder Tillmann gewesen. Ausgerechnet.
Aber wir hatten es überlebt - bis jetzt. Keine weitere Nacht mehr vor dem Kampf. François war nicht da gewesen. Umso größer würde sein Hunger heute Abend sein. Jetzt galt es, Paul glücklich zu machen, und ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich dabei behilflich sein sollte. Tillmann lotste mich in die Küche, stellte Kaffee auf und machte uns ein paar Toasts.
Es war kurz vor zehn, doch ich war so müde, dass mir immer wieder die Augen zufielen. Das Kauen war Folter, und wenn ich schluckte, raste der Schmerz durch meine Schläfe und bis ins Ohr. Außerdem verspürte ich nicht den geringsten Appetit. Nach drei Bissen schob ich meinen Teller
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