Scherbenmond
uns genauso. Wir sind Gefährten. Deshalb - was immer ich tun kann, um dich heute Nacht abzulenken: Ich tu es. Alles.«
In dem kleinen Wörtchen »alles« schwang eine Bedeutung mit, die die Wärme in meinem Gesicht augenblicklich in Hitze verwandelte. Alles? Meinte er etwa das mit alles? Ich schaute ihn an, fragend und verlegen zugleich. Hatte Tillmann Schütz mir soeben ein unmoralisches Angebot gemacht? Er erwiderte meinen Blick ruhig, aber mit unmissverständlicher Bejahung.
»Ich, äh, also ... danke. Aber - nein. Besser nicht. Ich möchte deine Freundin nicht... und Colin ... ich ...« Errötend setzte ich meiner Stotterei ein Ende und stierte demonstrativ an ihm vorbei.
»Ich glaube, es ist klüger, jemanden zu betrügen, als ums Leben zu kommen, wenn es die einzige Möglichkeit ist, an etwas anderes zu denken, oder?«, fragte Tillmann leise.
»Ich bin eine Frau«, entgegnete ich mit kläglichem Galgenhumor, obwohl ich mich gerade wie ein dummes, kleines Mädchen fühlte und bestimmt nicht wie eine Frau. »Ich kann auch dabei sehr gut an etwas anderes denken.« Bei Andi hatte ich es in aller Ausgiebigkeit getan. Bei Colin eher nicht. Und wie würde es bei Tillmann sein? Konnte ich mir das überhaupt vorstellen? Ich ertappte mich dabei, wie ich meine Augen prüfend über seinen Körper wandern ließ, und er begann zu grinsen. Lässig hob er seinen T-Shirt-Zipfel an und entblößte ein Stück seines Bauches. Er war glatt und muskulös. Seine helle Haut schimmerte wie Milch. Ja, ich konnte es mir vorstellen und ich erschrak darüber. Denn ich wollte es nicht.
»Vergiss es«, sagte ich gedämpft und einen Hauch widerstrebend. »Ich steige nicht mit jemandem ins Bett, der mich nicht leiden kann. Es muss auch andere Möglichkeiten geben.«
»Für mich ja«, meinte Tillmann selbstsicher und ließ das Shirt fallen. »Ich weiß nur nicht, ob du das hinkriegst.«
Sein Argwohn war berechtigt. Ich begann bereits panisch zu werden, bevor der Uhrzeiger der Zwölf entgegenrückte. Als Tillmann aus dem Bad zurückkam, hockte ich weinend im Pyjama - irgendein alter Ableger von Paul und viel zu groß - auf dem Bett, erbost über meine Unfähigkeit, meine Gedanken zu verschließen, und restlos verängstigt durch die Vorstellung, dass Paul diese Nacht möglicherweise nicht überstehen würde. Bevor er einschlief, hatte er so schlimm gehustet, dass ich selbst das Gefühl bekommen hatte, an Atemnot zu leiden.
Tillmann setzte sich gegenüber auf seine Pritsche und sah mir eine Weile beim Heulen zu, bis ich mich verpflichtet fühlte, meinen Zustand zu erklären. Aber da gab es nichts zu erklären. Es gab nur etwas zu entscheiden.
»Ich werde Paul nicht allein lassen«, schluchzte ich heiser. »Ich schlafe drüben bei ihm. Ich lasse ihn nicht allein sterben!«
»Ellie, das ist Wahnsinn!« Schon war Tillmann aufgestanden und stellte sich breitbeinig vor die Tür. Diesmal erinnerte ich mich an ein paar wenige Karatetechniken und probierte sie umgehend aus, musste aber verdutzt zusehen, wie Tillmann mich mit einem Tritt und einer schnellen Wendung außer Gefecht setzte. Ich lag auf dem Boden und er hatte mein linkes Bein so verdreht, das mir vor Schmerz beinahe die Luft wegblieb.
»Fünf Jahre Judo«, erklärte er und grinste kurz. »Bist nicht die Einzige, die Kampfsport beherrscht. Außerdem bin ich stärker.«
»Bitte, lass mich zu ihm.« Ich hatte noch ein paar Tricks auf Lager und wahrscheinlich wäre es mir gelungen, mich herauszuhebeln. Aber mir fehlte die Energie, es auszutesten. »Bitte, Tillmann.«
»Nein.«
»Er ist mein Bruder - wenn ich hier einschlafe und François bringt ihn in Lebensgefahr, dann hab ich überhaupt keine Chance, ihm zu helfen ...«
»Das hast du auch nicht, wenn du bei ihm liegst. Oder meinst du etwa, dass du dann nicht einschläfst?«, fragte er mit bester Oberlehrermiene.
»Doch. Natürlich schlafe ich dann auch ein, falls François nicht vorher schon meine Gedanken liest und mich tötet. Aber ich bin mir sicher, dass ich es sogar im Tiefschlaf merken würde, wenn das
Herz meines Bruders stehen bleibt. Er ist mein Bruder, verstehst du? Nein, das verstehst du nicht, du hast keine Geschwister, oder?«
Tillmann schüttelte den Kopf und sein Gesicht verhärtete sich. »Nein. Nein, hab ich nicht. Aber ich hätte immer gerne eine Schwester gehabt. Eine kleine Schwester«, ergänzte er mit Nachdruck.
Okay, eine kleine Schwester. Ich konnte also als Ersatz nicht dienen. Doch das entschiedene
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