Scherbenmond
links. Nein, eine Spitze in der Mitte. Wenn es kalt war, wurden seine Wangen rot. Vielleicht mochte er das nicht, aber alle Mädels fanden es niedlich. Es war so lebendig. Er hat beim Laufen die Hände in die hinteren Hosentaschen statt in die vorderen gesteckt. Und es wirkte nie aufgesetzt! Es passte zu ihm. Im Frühling und Herbst hatte er oft eine Jacke aus weichem Jersey mit einem dunkelblau-weiß gestreiften Innenfutter an, das nur an der Kapuze und den Ärmeln herausblitzte. Ich werde diese Jacke nie vergessen. Ich habe sie bei keinem anderen gesehen. Sie war sicherlich schweineteuer. Im Sommer trug er die Schuhe grundsätzlich ohne Strümpfe. Ich weiß nicht, wer ihm das alles beigebracht hat, aber ich hab ihn niemals schlecht gekleidet erlebt ... niemals ... Er war nicht wie die anderen. Er hatte Stil. Er trug nie irgendetwas, es schien immer etwas Besonderes zu sein, eine Bedeutung zu haben ...«
Ich hielt inne und überlegte. Was redete ich da eigentlich? Klamotten, Haaransatz, O-Beine. Gestreiftes Jackenfutter. Ein Festival der Oberflächlichkeiten.
»Und weiter? Was war es noch? Versuch, dich zu erinnern.«
Oh, das fiel mir nicht schwer. Ich erinnerte mich an alles. Ich hätte jedes seiner Kleidungsstücke aus dem Kopf aufzeichnen können.
»Er war Schulsprecher und ein begnadeter Sportler. Bei den Lehrern beliebt, ohne jemals ein Streber zu sein. Er hatte von seinen Eltern auch sofort ein Auto bekommen, nachdem er achtzehn geworden war. Den Führerschein hatte er natürlich auf Anhieb bestanden, klar. Er fuhr einen alten Citroen, ein Cabrio, keine verrostete Knatterente wie Mama, sondern ein wirklich schickes Teil. Silbergrün. Und dann ... dann geschah etwas Seltsames. Es war ein knappes Jahr vor seinem Abitur, beim Sommerfest der Schule, abends. Ich stand mit meinen Freundinnen zusammen und wir haben uns gegenseitig mit Gummibärchen gefüttert und auf einmal hab ich bemerkt, dass mich jemand ansieht.« Ich schloss die Augen, um zurück in diese warme, verzauberte Sommernacht zu tauchen. »Er war es. Grischa hat mich angesehen. Tief und fest - und so lange. Es dauerte mehrere Sekunden, vielleicht sogar eine Minute. Meine Freundinnen haben es ebenfalls registriert und verwundert aufgehört zu reden. Als würde die Zeit stehen bleiben. Ich habe seinen Blick erwidert - ich meine, was hätte ich sonst tun sollen? Wegsehen, wenn er mich endlich mal wahrnimmt? Und so haben wir uns angeschaut und nichts sonst getan. Uns nur in die Augen gesehen. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, er meinte mich. Mich! Ich war die Erste, die den Blick abwandte. Ich musste lächeln, ich konnte gar nicht anders. Ich weiß bis heute nicht, warum er mich angesehen hat.«
»Hast du ihn nie gefragt?«, wunderte Tillmann sich.
»Vielleicht hat er mich nur angesehen, weil ich irgendwas Doofes anhatte oder weil er und ein Kumpel eine Wette am Laufen hatten, wen sie am schnellsten beeindrucken könnten, oder weil er mich austesten wollte ... Als er Abitur gemacht und die Schule verlassen hat, dachte ich, ich sterbe. Dass ich das nicht überlebe. Es war schrecklich. Denn mir war klar, dass er aus meinem Leben verschwinden würde. Für immer.« Und so war es dann auch gekommen.
»Aber - ihr habt doch nie miteinander geredet, es war doch gar nichts zwischen euch ...«
»Er war da! Ich konnte ihn anschauen. Er war meine Motivation, zur Schule zu gehen, morgens aufzustehen, mich diesem Kampf zu stellen, diesem Mitziehen und Schauspielern, und auch den Mobbereien, als ich noch nicht schauspielerte ... Nur die Hofpausen konnten mir dabei helfen, das zu bewältigen. Selbst wenn ich ihn nur zwei Minuten lang sah, weil es mir wieder Futter gegeben hat für ...« Ich verstummte.
»Für was?« Tillmann berührte meine Finger kurz mit seinen Lippen - nicht als wolle er mich zurückholen, sondern als wolle er mich damit weiter weg in die Vergangenheit schicken. Zu Grischa. Er tat etwas, was Grischa niemals getan, was ich mir aber immer von ihm gewünscht hatte.
»Futter für meine Tagträumereien«, gestand ich bitter. »Ich hab mir vorgestellt, dass wir befreundet sind. Ich habe gar nicht erwartet, dass er sich in mich verliebt, dass wir eine Beziehung haben. Ich hätte dem nie standhalten können - es war ja dauernd ein Mädchen hinter ihm her. Wie hätte ich ihn an mich binden können? Eigentlich war ich auch nicht klassisch verliebt in ihn. Ich dachte dabei nicht an Sex oder Zusammenziehen oder Kinderkriegen. Nein, ich wollte, dass er
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