Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
dir doch gut gehen lassen auf dem Schiff mit deiner ... Tussi. Also beklag dich nicht.«
    »Ja, und dreimal darfst du raten, warum ich das gemacht hab. Warum ich am ersten Abend ein Mädel aufgerissen hab. Na? Um an etwas anderes zu denken. Das ist nicht zufällig passiert. Ich hatte eine Vision auf diesem Schiff, gleich nach der Ankunft. Ich sah François, wie er meinen Schädel mit Pfeilen durchbohrte und durch die Löcher blickte. Ich musste das tun. Und es lenkt mich nun mal ab.«
    »Mich nicht«, entgegnete ich stur. »Mich kann so etwas nicht ablenken.«
    »Oh doch, das kann es«, widersprach Tillmann beharrlich, beugte sich vor und streifte meinen Mund besitzergreifend mit seinen Lippen. Ich erschauerte, weil sie warm waren. Warm, nicht kühl.
    Das ist ein Kuss, sagte ich mir sachlich, als die zufällig anmutende Berührung zu einer verbindlichen wurde, Missverständnisse ausgeschlossen. Ja, es war ein Kuss, deutlich und fordernd. Ich ließ es zu, dass unsere Zungen sich berührten, innehielten, sich dann wieder trennten und meine Gedanken mit ihrem beiläufigen Spiel stoppten. Ich konnte nicht mehr denken. Mein Gesicht entflammte in einer plötzlichen Hitzewelle und meine Knie wurden angenehm schwach. Wie nebenbei griff Tillmann nach meiner Hüfte und zog seinen Oberschenkel leicht an, um mich abzustützen. Noch eine Weile ruhten unsere Lippen sanft aufeinander, bis er sich langsam zurückzog. Sofort begann mein Hirn wieder zu arbeiten.
    Meine Ohrfeige erreichte gar nicht erst Tillmanns Wange und ich musste zugeben, dass ich sie trotz wiedergewonnener Geistesgegenwart sehr halbherzig ausgeführt hatte. Er fing sie locker ab und grinste.
    »Nicht nötig«, raunte er. »Der war von Colin.«
    »Aber ...« Doch Tillmann hatte sich schon abgewandt und lief Gianna und Paul hinterher, die uns eifrig zuwinkten und auf eine Gasse deuteten.
    »Beeilt euch, es ist grad keine Schlange an der Tür! Schnell!«
    Ich fühlte mich wie weich gekocht, als ich mich von der Wand abstieß und versuchte, ganz normal einen Fuß vor den anderen zu setzen. Beschämt stellte ich fest, dass ich mich lieber hingelegt hätte. Mit wem auch immer. Tillmann, Colin, Grischa. Hauptsache, Fortpflanzung. Was waren wir Menschen nur für heillos triebgesteuerte Konstruktionen.
    Doch wie hatte Tillmann gesagt? Der war von Colin. Wie hatte er das nur gemeint? Ich hatte Tillmann geküsst, nicht Colin. Ohne in ihn verliebt zu sein. Nun gut, er hatte mich geküsst. Ebenfalls ohne verliebt zu sein. Was beides nicht viel daran änderte, dass es meinem Bauch gefallen hatte. Es gefiel ihm immer noch. Er flatterte und zitterte und meine Gedanken blieben unwillig träge, obwohl ich mich federleicht fühlte. Ich schwebte fast über den Asphalt, sobald ich meine Fähigkeit zu laufen zurückerlangt hatte, und fiel in das Lachen der anderen ein, obwohl ich gar nicht wusste, worum es gerade ging. Gianna führte uns in einen Hinterhof. Ehe ich erkennen konnte, was für ein Etablissement uns erwartete, hatte sie mich durch den Eingang gedrängt und die dröhnenden Bässe machten jedes weitere Gespräch unmöglich.
    Ich kannte diese Art von Location aus Köln. Mittelgroße Clubs mit zwei bis drei Floors, dazu eine Lounge, stickige Luft und ambitionierte DJs, die meistens erst ab Mitternacht die richtig mitreißende Musik auflegten.
    Der Main Floor war zum Bersten voll. Trotzdem quetschten wir uns durch hüftwackelnde Frauen und schwitzende Männer, bis wir mitten auf der Tanzfläche landeten, eingeschlossen von feierwütigen Menschen, die fest entschlossen waren, die Nacht zum Tag zu machen. Es roch nach Alkohol und einer Überdosis Pheromonen.
    Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, als ich Giannas Miene registrierte. Paul hatte von einer Sekunde auf die andere zu tanzen angefangen und Gianna hatte ganz offensichtlich nicht das erwartet, was sie nun sah.
    »Na ja. Man kann nicht alles haben!«, brüllte sie mir zu. »Dafür sieht er toll aus, wenn er geht!«
    Paul, dem völlig klar war, worüber wir redeten, grinste uns unbekümmert an. Unbekümmert war auch die Art, wie er sich bewegte. Er war nie ein großartiger Tänzer gewesen, aber er tat es sehr gerne und immerhin rhythmusgerecht, auch wenn er dabei an einen tapsigen Zirkusbären erinnerte. Tillmann hingegen vollführte einen wahren Kriegstanz. Oder einen Totentanz? Wie damals, in dieser kalten Nacht in unserem Zimmer, wirkte er versunken, aber diesmal steckte mehr Kraft und Leidenschaft in seinen

Weitere Kostenlose Bücher