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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Bewegungen -eine feurige Coolness, die die Blicke der Mädchen auf sich zog. Auch Gianna schien vor unterdrückter Aggression zu bersten und schüttelte die Haare, als gäbe es kein Morgen mehr.
    Nur ich stand still und lauschte, lauschte in den Lärm hinein. Klangteppiche, ein wummernder Bass, dazu die dröhnenden Beats, das Schreien und Lachen der Menschen und - da. Da war es noch einmal gewesen. Eben hatte ich es noch für eine Sinnestäuschung gehalten, ein Knistern in den Boxen, so leise und unauffällig, dass man es sofort wieder vergaß. Eine winzige Störung, die nicht sein durfte, weil ein Club wie dieser sich keinen Leichtsinn mit seiner Technik erlaubte. Und deshalb hörte sie niemand außer mir.
    Jetzt gingen die Beats in einen neuen Song über. Ein paar Leute klatschten und Tillmann warf auf andächtige Weise den Kopf in den Nacken. Auch ich konnte nicht anders, als die Augen zu schließen.
    Es war Insomnia von Faithless. Schlaflos. Tillmanns Lebenshymne. Und Pauls. Vielleicht auch meine. Es war einer der wenigen Songs gewesen, bei denen ich es in Köln nicht mehr geschafft hatte, in Tussimanier zu tanzen. Entweder stillstehen oder toben. Etwas anderes war unmöglich. Wieder knisterten die Boxen. Ich öffnete meine Augen und war nicht willens, noch ein einziges Mal zu blinzeln. Er war hier.
    Ich duckte mich blitzschnell, tauchte ab und boxte mich durch die Massen. Ein fieses Zwicken hier, ein Ellenbogenschlag da, eine
    Handkante dort. Binnen Sekunden hatte ich mich an die Stiege zu einem der zwei Tanzpodeste gekämpft, auf denen sich die Go-go-Girls hoch über den Menschen lasziv verrenkten - zu dieser Musik völlig unpassend. Eine billige Parfumwolke wehte mir entgegen, als das Mädchen ihren Hintern kreisen ließ. Sie musste dort weg. Das war mein Platz.
    Es ging schnell, war eine Sache von wenigen Augenblicken und Handgriffen. Es bekam nicht einmal jemand mit. Das Mädchen wollte sich wehren, kreischte empört auf, doch als sie mein Gesicht sah, verstummte sie und hob nur lahm ihre lackierte Hand, bevor ich sie mit einer einzigen Bewegung zurück auf den Boden verfrachtete.
    Jetzt stand ich direkt oberhalb von Tillmann, Paul und Gianna, die noch nicht bemerkt hatten, dass ich verschwunden war. Sie tanzten mit geschlossenen Augen. Ich sah sie mir eine kleine Weile an, prägte sie mir ein, verliebte mich in ihre Gesichter und verankerte sie fest in meinem Herzen.
    Dann schaute ich zum Podest gegenüber. Nun war es leer. Er war also wirklich hier. Seine Aura hatte die Tänzerin vertrieben, bevor sie begreifen konnte, warum. Vielleicht war ihr plötzlich schwindelig geworden. Oder sie hatte Panik bekommen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Glaubte, keine Luft mehr zu kriegen. Fühlte sich schwer krank.
    Zeig dich, dachte ich. Bitte.
    Die Keyboards und die Beats setzten ein - Auftakt des hypnotischen, völlig irren Parts von Insomnia. Auch mir fiel es immer schwerer, stehen zu bleiben, doch wenn ich tanzte, verschwammen meine Gedanken und meine Instinkte und das durften sie nicht. Ich sog tief die Luft ein und die Haare auf meinen Unterarmen richteten sich auf. Ein wissendes Knurren befreite sich aus meiner Kehle.
    Endlich schob sich sein schwarzer, langer Schatten die Treppe hoch, elegant, leichtfüßig, vertraut und doch so Furcht einflößend. Ich stand frei, ohne mich festzuhalten, die Arme locker herunterhängend, den Kopf aufrecht. Ich wollte mich nicht verstecken.
    Lässig nahm er die letzte Stufe und trat auf das Podest, um mich anzusehen, und die Kälte, die seine kantigen Züge verströmten, wich einem silbrigen Schimmer, der seine Haut zum Leuchten und seine Augen zum Funkeln brachte. Doch dieses Mal ließen sie mich nicht taumeln. Ich stand fest und ich war nicht gewillt, mich in den Abgrund seines Blickes ziehen zu lassen. Nicht bevor ich gesagt hatte, was ich dachte.
    Der Beat legte sich für einen Moment. Zeit zum Atemholen, während die Synthies schwelten und die Spannung ins Unerträgliche stieg, die Tänzer nach neuer Bewegung lechzten. Auch ich. Doch diese Ruhepause vor dem Sturm gehörte mir.
    »Ich liebe dich«, flüsterte ich. Jede Silbe, jeder Buchstabe war wahr und wog schwer. Colin hatte mich gehört. Er hätte meine Stimme sogar gehört, wenn ich es nur gedacht hätte. Nur gefühlt. Doch ich musste es sagen. Meine eigenen Worte gaben mir die Gewissheit, die ich so dringend brauchte.
    Er hob seine Hand und legte sie auf seine Brust - auf jene Stelle, unter der in uns Menschen ein Herz

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