Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
Kindheit hatten sich diese Träume munter mit-einander abgewechselt, einer schlimmer als der andere. Weil sie realistisch waren. Der eine war schon wahr geworden, zur Hälfte. September 2001. Ground Zero. Der Super-GAU auch, bevor ich geboren wurde. 1986. Tschernobyl. Eines von Herrn Schütz’ Lieblingsthemen (abgesehen von dem Liebestropfen). Aber beides war nicht in meiner Nähe geschehen. Diesbezüglich musste das Schicksal noch Nacharbeit leisten.
    Und als ich während dieses harmlosen Mädchenabends in Köln das Video gesehen hatte, war ich erneut in meinen Träumen gefangen, in dem sicheren Wissen zu sterben - wenn nicht heute, dann in wenigen Tagen. Es gab keine Hoffnung mehr. Wir hatten uns unsere Vernichtung selbst erschaffen. Und es zählte nur noch eines: Wen hielten wir im Arm, wenn es geschah? Wo war der Mensch, den wir liebten?
    Auch jetzt, Jahre später, tauchten die letzten Szenen des Clips vor meinen Augen auf, als hätte ich ihn gestern noch gesehen, und ich konnte nichts gegen diese abgrundtiefe Rührung ausrichten, die das Schluchzen durch meine Brust quälte, ein Schluchzen, das nichts lindern konnte, gar nichts ... Zwei Liebende, die sich in stillem Einverständnis in eine dünne Decke hüllten, um beieinander zu sein, wenn sie starben. Ein letzter Blick auf die Kinder, die friedlich schlummerten. Dann die Explosion. Das gleißende Licht. Der bunte Kreisel unterm Bett... der Kreisel...
    Mein Blick verschwamm. Oh Gott. Was tat ich hier eigentlich? Pläne für ein Wiedersehen mit Grischa schmieden? Hatte ich den Verstand verloren?
    »Ellie ... bitte ...!« Tillmanns Schreien - anders konnten wir uns nicht verständigen - klang mahnend, sogar eine Spur genervt. Er hatte allen Grund, genervt zu sein. Ich durfte die Stimmung nicht verderben. Wie an dem Abend mit Jenny und Nicole. Und diesmal ging es um so viel mehr. Doch hier, inmitten der Menschenmassen, gab es kein Badezimmer, in das ich mich zurückziehen konnte, um in Ruhe zu heulen und mir immer wieder klarzumachen, dass das, was ich eben gesehen hatte, nur die Ausgeburt eines apokalyptisch veranlagten Regisseurs gewesen war, der sich wichtigmachen wollte. Nicht echt. Erfunden. Die Kinder lebten. Alle lebten. Es gab keine Explosion. Der Kreisel war danach in eine Kiste gepackt und zurück in die Regale mit den Requisiten gestellt worden. Alles nur Show.
    Solange ich aber keine Chance hatte, der Musik zu entfliehen, bewirkten diese Gedanken nichts. Schon drehte Paul sich nach mir um, weil ich ein paar Schritte rückwärtsgetreten und ein Pärchen angerempelt hatte, dessen beide Hälften sich gegenseitig die Zunge in den Hals steckten. Bevor er in meine Augen sehen und erkennen konnte, was mit mir los war, verbarg ich mein Gesicht in Tillmanns Halsbeuge. Er kapierte sofort und legte die Arme um meine Schultern. Wir mimten die Verliebten, weil es anders nicht ging.
    »Ich muss zu Colin«, rief ich ihm ins Ohr, während er mich immer noch festhielt und wir aussehen mussten, als habe uns Amors Pfeil von allen Seiten und mindestens zehnfach durchbohrt. »Ich muss ihn noch einmal sprechen, bevor wir sterben!«
    »Wir sterben nicht! Erzähl nicht so einen Scheiß, Ellie! Und hattest du nicht Angst vor Colin?«
    »Ja, hatte ich!« Ich sah aus den Augenwinkeln, dass Gianna und Paul vertraut Händchen hielten und die Köpfe zusammensteckten. Bestimmt redeten sie über uns. Sehr gut, sollten sie, wenn sie dachten, wir hätten uns nun doch ineinander verknallt, und nichts von meinen echten Gefühlen wahrnahmen.
    »Ich habe immer noch Angst vor ihm, aber ... ich liebe ihn und ... was ist, wenn ich mich irre und er genauso umkommt wie wir und wir nie mehr in Ruhe miteinander sprechen konnten? Er ist der Einzige, den ich bei mir haben möchte, wenn es zu Ende geht, und ausgerechnet er ...«
    »Es geht nicht zu Ende!« Tillmann nahm mein Gesicht in seine Hände und schaute mich mit unerbittlicher Härte an. Ich lächelte, weil Paul uns einen Blick zuwarf, doch Tillmann, der mit dem Rücken zu ihm stand, war weit davon entfernt, mein Lächeln zu erwidern. »Es geht nicht zu Ende, hörst du? Glaub das bloß nicht.«
    Ich sah ihn fest an, nicht mehr lächelnd, aber trotzdem beinahe liebend, weil ich auch ihn vermissen würde, wenn ich gehen musste.
    »Ich habe das Gefühl schon seit Wochen, Tillmann.« Ich redete leise - hören würde er mich nicht, höchstens das ein oder andere Wort von den Lippen ablesen. Mehr nicht. Aber das spielte keine Rolle. »Einer von

Weitere Kostenlose Bücher