Scherbenmond
schlug. Dann erlosch der weiche Schimmer auf seinem Gesicht und die Kälte kehrte zurück. Bevor meine Angst begreifen konnte, dass sie mich überwältigen und zur Flucht treiben musste, schwang ich mich mit einem Satz auf das Geländer, federte ab und sprang hinunter zu den Tanzenden. Ich kam dicht neben Tillmann auf. Er streckte blind seinen Arm aus, um mich abzufangen. Es wäre nicht nötig gewesen. Ich hatte schon lange meine Balance gefunden - wenn nicht in meiner Seele, dann wenigstens in meinem Körper.
Jetzt tanzte auch ich, bis meine Füße brannten, mein Herz raste und die Abstände zwischen dem Knistern in den Boxen immer größer wurden, um schließlich vollständig abzuflauen. Colin hatte sich auf den Weg gemacht. Tillmann und ich blieben gleichzeitig stehen und schauten uns an.
»Lass uns abhauen«, rief er mir zu, obwohl wir erst seit maximal einer halben Stunde hier waren. »Das lässt sich nicht mehr steigern! Mehr geht nicht.«
Ich gaukelte Paul einen kleinen Schwächeanfall vor, um ihn zum Aufbrechen zu bewegen. Denn es ging auf Mitternacht zu und er musste einschlafen, bevor François auftauchte. François, an den wir nicht denken durften.
Wir nahmen ein Taxi, setzten uns dicht an dicht auf die Rückbank. Ich hielt mich an dem fest, was meine Fantasien anzuheizen vermochte und nichts mit Mahren zu tun hatte. Es war wenig, aber es genügte. Und wenn das nicht half, dachte ich an Tillmanns Kuss und versuchte zu vergessen, dass er eigentlich gar nicht von ihm gewesen war.
Im Autoradio lief Ti amo von Umberto Tozzi, wie Gianna mehrfach verkündete, als habe sie die Komposition eigenhändig geschrieben, und sie trällerte selig mit. Auch mich ließ die Musik nicht kalt. Ich verspürte eine unbändige Sehnsucht nach dem Süden und jener Sonnenhitze, die ich noch nie hatte erleben dürfen. Wie musste es sich anfühlen, tagelang nicht zu frieren?
Zurück zu Hause, standen wir ein paar Minuten lang stumm im Flur und schauten uns an, allesamt leicht verwundert, satt und dennoch schwerelos. Es würde ein Festessen für François werden. Vielleicht würde er sich zur Feier des Tages an jedem von uns bedienen wollen. Deshalb musste Gianna so schnell wie möglich zu ihrer Wohnung fahren.
»Ich gehöre in die Federn. Echt«, log ich und gähnte dramatisch. »Und du auch, Paul.«
Doch Pauls Augen hingen an Gianna. Sie hatten sich noch nicht geküsst. Gianna zierte sich wie ein Pfau, schon den gesamten Abend lang.
»Nun spiel nicht länger Theater ...«, murmelte Paul, zog sie resolut an sich und drückte seine Lippen auf ihren vor Erstaunen geöffneten Mund. Ich musste grinsen. Gianna hatte sich das alles insgeheim sicherlich romantischer ausgemalt. Im Vergleich zu Pauls handfestem Liebesübergriff war Tillmanns und mein Kuss geradezu bühnenreif gewesen.
Doch dieser hier würde nicht der letzte sein - hoffentlich. Und wenn ja, dann war er aus echter Zuneigung geschehen. Eine Zuneigung, die Bestand haben würde. Sie reichte für Kinder und ein Haus und wahrscheinlich sogar für diverse Ehekrisen. Das war nichts, was einfach so wieder verflog. Es war echt. Gianna griff sich verdutzt an die Lippen und kippte beinahe nach hinten, als Paul sie losließ.
»Machst du das immer so?«, fragte sie vorwurfsvoll. Paul hob gleichmütig die Schultern.
»Ich hatte keine Lust, länger zu warten.« Dann gähnte auch er. Ich wunderte mich, dass er überhaupt so lange durchgehalten hatte. Er hatte immerhin einen Herzfehler, verschleimte Bronchien, erhöhte Blutfettwerte und ...
»Okay, ab ins Bett«, entschied ich und schob Paul in Richtung Badezimmer. Er gehorchte schlurfend. Gianna rührte sich nicht vom Fleck. Vor dem Bad lehnte Paul sich an den Türrahmen und zwinkerte ihr müde, aber sehr zufrieden zu. Dann eiste er sich von ihren Augen los. Kurz darauf hörten wir ein vernehmliches Plätschern und die Klospülung.
»Klasse«, sagte Gianna resignierend. »Das ist so typisch für mein Leben. So typisch. Das Letzte, was ich von meinem geliebten Mann wahrnehme und an das ich mich immer erinnern werde, ist das Rauschen seines Urinstrahls.«
»Na, immerhin scheint die Prostata noch intakt zu sein«, überspielte ich die Hellhörigkeit dieser Wohnung optimistisch und öffnete die Tür, um Gianna zu verabschieden. »Du kannst jetzt gehen. Danke für alles.«
Sie musterte mich abwertend und die kleinen Falten in ihren Nasenflügeln verschärften sich, als sie mir die Klinke aus der Hand zog und die Tür wieder
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