Scherbenmond
Anblick lähmte Giannas Zunge im Nu. »Hallo«, hauchte sie. Es klang wie ein »Hao«, schwach und willenlos.
Ja, Paul überstrahlte uns alle. Ich konnte nicht genau sagen, warum das so war. Und mir war vorher auch nicht bewusst gewesen, dass Leid so attraktiv wirken konnte. Denn die Schatten unter seinen Augen waren zwar milder geworden, aber nicht verschwunden, und die Melancholie hatte sich fest in seinen Mundwinkeln verankert, selbst wenn er wie jetzt auf verboten bezaubernde Weise zu lächeln begann. Papa hatte mir einmal erzählt, dass kranke Menschen kurz vor ihrem Tod noch einmal aufblühten und die Angehörigen oft glaubten, es ginge aufwärts, ja, dass sie sogar Heilung fänden. Stattdessen war es nur ein letztes Leuchten, wie eine Flamme, die der Wind aufflackern ließ, bevor seine Kälte sie endgültig zum Erlöschen brachte.
Doch ich verfrachtete diese Vorstellung in die Kiste mit all den Gefühlen und Überlegungen, die heute Abend verboten und verpönt waren, und versuchte, Pauls Anblick zu genießen - mein Bruder in seiner nachtblauen Edeljeans und einem dunklen Pullover, mit breiten Silberringen an seinen schönen Händen und dem leicht gelockten, langen Haar. Ob ihm überhaupt bewusst war, wie sehr er Papa ähnelte? Und doch ein völlig anderer Mensch war?
Das Essen erlebte ich wie in einem Rausch. Ich hatte einen sagenhaften Appetit und schaffte wider Erwarten drei Gänge, beseelt von meinen Grischa-Plänen, die mit jedem Bissen konkreter und greifbarer wurden. Soziale Netzwerke erfreuten sich immer größerer Beliebtheit. Vielleicht hatte er sich mittlerweile doch bei Facebook, Xing oder wkw angemeldet. Und wenn nicht er, dann einer seiner Freunde, deren Namen ich noch kannte und die ich nach seinem Verbleib fragen konnte. Ich musste nur einen guten Grund finden, Grischas Neugierde zu entfachen. Aber der würde mir schon einfallen. Ich hatte Tessa überlistet. Wenn man das geschafft hatte, musste es doch im Bereich des Möglichen liegen, einen alten Schulkameraden ausfindig zu machen. Und falls nicht, gab es immer noch Papas Geld und es würde ausreichen, um einen Privatdetektiv zu engagieren.
In noch ekstatischere Stimmung aber versetzte mich die Vorstellung, wie es sein würde, wenn wir uns endlich gegenüberstanden. Denn ich war nicht mehr das kleine, verhuschte Mimikrymädchen von früher, austauschbar und verkleidet. Ich war Elisabeth Sturm, die einzige Menschenfrau, die mit einem Nachtmahr liiert war (was ich nur flüchtig bedachte, denn an die Mahre wollte ich jetzt keine Zeit verschwenden). Ich machte Karate, hatte ein Einserabitur,
meinen Führerschein und statt mit Kicherfreundinnen verbrachte ich meine Zeit mit einem unterkühlten Hip-Hop-Fan, der seine Wochenenden dazu nutzte, sich die Brust mit Zweigen zu durchbohren, und koksend sein Leben aufs Spiel setzte, wenn die Umstände es verlangten. Grischa musste all das sehen. Begreifen, dass er sich geirrt hatte, als er dachte, ich sei eine von vielen gewesen. Wahrscheinlich hatte es kaum eine andere außer mir je ernst mit ihm gemeint. Und wenn ihm das klar wurde, würde er sich auch daran erinnern, wobei ich ihm helfen musste.
Diese Hochgefühle hatten auch nach dem Essen angehalten und selbst die vielen Menschen in der Konzerthalle und die etwas überalterte Band hatten mich darin nicht stören können. Es klappte alles wie am Schnürchen. Sogar das Konzert fing pünktlich um zwanzig Uhr an, was Gianna mächtig zum Staunen brachte. Wir waren geniale Glücksregisseure und ich suhlte mich wohlig in dem Gefühl, etwas durchweg Großartiges zu leisten - bis zu dem Song, den Ultravox nun angestimmt hatte und auf den anscheinend alle außer mir sehnlichst gewartet hatten. Dancing with Tears in my Eyes.
Natürlich kannte ich ihn! Er war eines Abends auf MTV gelaufen, in einer dieser Sendungen, in denen beliebte Videos gezeigt wurden und die Zuschauer ihre Favoriten wählen durften. Sie war grausam moderiert und von unerträglichen Werbespots unterbrochen, aber sie eignete sich gut dazu, nebenbei in Hochglanzmagazinen zu blättern, über Jungs zu quatschen und Pläne fürs Wochenende zu schmieden. Genau das hatten Nicole, Jenny und ich getan - bis zu dem Moment, als die ersten Bilder des Videoclips dieses Songs über den Flat flackerten.
Denn sie zeigten einen meiner Albträume. Nicht den mit den abstürzenden Flugzeugen und dem Atompilz am Horizont, sondern die zweite Variante. Den Super-GAU im Kernkraftwerk direkt nebenan. In meiner
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