Scherbenmond
uns wird sterben. Wahrscheinlich ich. Ich fühle das. Ich bin nur noch hier bei euch, weil ich sowieso nicht entrinnen kann. Ich habe gar keine Wahl. Aber ich hätte ihn so gerne noch einmal gesehen.«
Tillmann nahm meinen Kopf und schmiegte ihn an seine Schulter, damit Paul und Gianna die Tränen in meinen Augen nicht sehen konnten.
»Falls wir sterben, sollten wir glücklich sterben. Okay, Ellie? Wir sterben glücklich. Hast du das verstanden?«
Der Song verklang und der Jubel brandete auf. »Zugabe«-Rufe von allen Seiten. Ich nahm einen Zipfel von Tillmanns Hemdkragen und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln, bevor ich mich zu jener nervigen Person umdrehte, die hektisch an meinem Ärmel zupfte. Es war Gianna.
»Hey, ihr Turteltauben, wir sollten verschwinden, wenn wir nicht in der Meute erstickt werden wollen ... Das ist immer das Beste, vor der Zugabe abhauen! Denn jeder Depp will die Zugabe sehen!« Sie strahlte uns stolz an. »Langjährige Presseerfahrung!«
Wir schafften es, uns durch all die fröhlichen Menschen zu drängeln und den Ausgang zu passieren, bevor die große Massenflucht einsetzte. Immer noch hallte der Ohrwurm in meinem Kopf nach.
Dancing with tears in my eyes ... weeping for the memory of a life gone by ...
Und jetzt tanzen gehen? Disco? Wieder hinein in den Trubel und in all die grinsenden, dümmlich-glückseligen Gesichter schauen müssen? Nie hatte ich mich mehr nach der Einsamkeit und der Stille des Waldes gesehnt. Doch seitdem der Wolf tot war, konnte ich nicht mehr an mein Zuhause denken, ohne um ihn zu trauern.
»Mir hinterher!«, rief Gianna und dirigierte uns durch Straßen und Gassen, durch die ich nie zuvor gelaufen war. Ich kannte Hamburg kein bisschen. Ich lebte seit Wochen in dieser Stadt und war nicht ein einziges Mal auf der Reeperbahn gewesen.
Doch nun fühlte es sich sinnlos an. Tanzen gehen. Warum? Wenn doch gleich alles vorbei sein würde? Ich hatte das nie verstehen können, dieses beliebte Gedankenspiel: Was würdest du tun, wenn heute dein letzter Tag wäre? Denn was brachte es, etwas zu tun, wenn man es sowieso nicht fortführen konnte? Ich hatte nur einen Wunsch - bei demjenigen zu sein, den ich liebte. Der Haken war, dass ich nicht mehr genau wusste, wer das war. Im Zweifelsfall Colin. Im Zweifelsfall immer Colin. Der mich töten wollte ... Und trotzdem hielt ich mich an der Hoffnung fest, dass er auf unserer Seite stand und meinen Bruder retten würde. Weil mir nichts anderes übrig blieb.
»Ellie? Bist du müde? Na komm schon!«, rief Paul, der sich während des Gehens nach mir umdrehte. Ich war zurückgefallen, lief den anderen wie ein verträumtes Hündchen hinterher.
»Muskelkater!«, gab ich grinsend zurück und winkte ihm zu. »Autsch!« Ich rieb mir in astreiner Schauspielermanier die Oberschenkel. Die Dunkelheit verhinderte, dass er die Tränen in meinen Augen schimmern sehen konnte. Nur Tillmann sah sie. Er nahm mich am Handgelenk und nötigte mich dazu, schneller zu gehen. Bockig stemmte ich die Füße in den Boden.
»Elisabeth.« Er atmete tief durch und versuchte, sich zurückzuhalten. Verflucht, sah er gut aus heute Abend. Die Energien pulsierten in seinen Augen, sein Rücken war straff, sein Körper voller Erwartung. Er wollte den Kampf, ja, er fieberte ihm entgegen. Und die Vorfreude schien ihn anzuregen, vielleicht sogar zu erregen. Was hatte Herr Schütz über einen der Atavismen erwähnt, die uns Menschen ab und an befielen? In der Gegenwart des Todes waren wir von dem plötzlichen Wunsch beseelt, uns fortzupflanzen? Unsere Nachkommenschaft zu sichern, selbst wenn die Welt unterzugehen drohte - um des Überlebens willen?
»Ich geh nach Hause. Feiert alleine weiter«, flüsterte ich. Ich lehnte mich kraftlos an die feuchte Backsteinmauer hinter mir. Giannas Kichern flirrte durch die Nacht, dann schwappte Pauls leises Lachen zu uns herüber.
Tillmann stützte sich mit den flachen Händen rechts und links von meinen Schläfen an der Wand ab, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt.
»Nein, Ellie. Erinnere dich an die vergangenen Wochen. Was haben wir gemacht? Uns gefürchtet, die Köpfe zermartert, kaum gegessen und geschlafen, gestritten ... Wir haben überhaupt nicht gelebt. Wir sind hier mitten in einer Großstadt, in die jeder andere zum Feiern fährt, haben die Reeperbahn um die Ecke, St. Pauli, Fischmarkt, alles da, und wir zerfleischen uns. Lass uns wenigstens heute Nacht leben.«
»Ach komm. Du hast es
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