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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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schloss. Sie streifte die Jacke von ihren Schultern und warf sie achtlos in die Ecke.
    »Gehen? Ich soll jetzt gehen? Abhauen? Kneifen? Niemals. Ich bleibe.«

Kammerflimmern
    Giannas plötzliche Todesverachtung überraschte mich zwar ein wenig, änderte meine Pläne aber nur unwesentlich. Denn ihr war nicht klar, was gleich geschehen würde. Tillmann wusste es, aber er schien zu glauben, dass ich es in meiner Panik während der letzten Tage vergessen hatte.
    Schweigend und lauschend saßen wir zu dritt nebeneinander auf meinem Bett, bis die Badezimmertür zuschwang und im Schlafzimmer nebenan Ruhe einkehrte. Nicht einmal Pauls Schnarchen drang durch die Wand. Auch gestern hatte er nicht geschnarcht, als Tillmann und ich uns neben ihn gelegt hatten. Sein Atem war zu flach geworden, um seinen Gaumen erschüttern zu können. Er schnarchte ebenso wenig, wie Ohnmächtige schnarchten.
    Gianna traf es als Erstes, denn sie hatte nicht damit gerechnet. Ihre Augen wurden trübe und ihre Hände, die sie eben noch nervös geknetet hatte, fielen leblos herab. Dann sank ihr Kopf gegen meine Schulter. Ich rückte zur Seite und erhob mich, damit ich sie ausgestreckt auf das Bett legen konnte. Auch Tillmann stand auf. Wieder streiften mich seine Blicke, wie unzählige Male in den vergangenen Minuten. Es war mir nicht entgangen, doch ich hatte so getan, als habe ich es nicht bemerkt oder sei zu müde, zu sehr in meinen Gedanken und in meiner Angst verloren, um darauf einzugehen.
    Er trat an Pauls Regal der Scheußlichkeiten, befreite einen Hirschkäfer aus dem kleinsten der Katzenschädel und holte ein winziges
    Päckchen hervor. Ohne mich anzusehen, schüttete er den Inhalt auf das Regalbrett und formte das weiße Pulver mit seiner EC-Karte, die er nachlässig aus der Hosentasche zog, zu einer schmalen Linie. Ich sah ihm mit verschränkten Armen dabei zu.
    »Du hast es wohl in all deiner Aufregung vergessen, Ellie«, sagte er konzentriert, ohne aufzuschauen. Ich stellte mich direkt hinter ihn. »Aber wir werden einschlafen, wenn er kommt. Gianna hat es schon erwischt. Es wird schneller gehen als sonst. Ich werde etwas dagegen tun und du weißt, was. Ich will dabei sein. Ich muss dabei sein.« Er hatte sein Werk vollendet und beugte sich über die weiße Linie.
    Musst du nicht, dachte ich ruhig, hob meinen Arm, legte meine Finger in die Kuhle zwischen Halsbeuge und Schulter und drückte fest zu. Lars hatte mir diesen Punkt so oft gezeigt, dass ich ihn blind gefunden hätte. Bevor Tillmann das Pulver einatmen konnte, gab sein Körper unter meinen Händen nach und sackte zu Boden.
    »Ruhe sanft«, flüsterte ich und schob ein Kissen unter seinen Kopf. »Auch du hast mich unterschätzt.«
    Ich hatte seit Tagen über dieses Problem nachgedacht, es aber wohlweislich nicht angesprochen. Denn Tillmann würde genau das Mittel wählen, das schon beim letzten Mal hervorragend seine Zwecke erfüllt hatte. Kokain - zumal es seine Aggressivität nur noch schürte. Es war der ideale Stoff für einen Kampf. Einmal war bekanntlich keinmal. Zweimal jedoch war der Beginn einer Sucht. Und Tillmann hatte Chancen, das alles hier zu überleben, vermutlich bessere als ich. Ich konnte nicht zulassen, dass er es schaffte und danach schnurstracks in die Drogenhölle abrutschte.
    Meine Augen glitten über die weiße Linie. Sie sah so harmlos aus. Schwach glitzernd, rein, unschuldig. Es war einfach, fast wie bei einem Spiel. Ein Luftzug und das Hirn explodierte, machte einen glauben, unsterblich zu sein - ein Gefühl, das ich mir stärker herbeisehnte als alles andere. In Tillmanns Kopf war das Begehren nach
    Gewalt und Sex entstanden; zwei klare Wünsche, mehr nicht. Für Angst war kein Platz mehr gewesen.
    »Und führe uns nicht in Versuchung«, hatte Colin gesagt. Keine Angst haben? Gewalt erleben wollen? Von beidem war ich weit entfernt. Nur eine Regung meines Zwerchfells, ein Blähen meiner Lungen - nicht stark, vielmehr ein natürliches, nebensächliches Einatmen - würde das ändern. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ich fühlte mich schon nach der Einnahme eines durchschnittlichen Antibiotikums vergiftet, bekam Magenschmerzen von Aspirin und spürte sogar Veränderungen in mir, wenn ich ein paar homöopathische Kügelchen auf der Zunge zergehen ließ. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Zeug mit mir anrichten würde. Möglicherweise tötete es mich, bevor François sich überhaupt näherte.
    Mit einem lautlosen Seufzen kehrte ich das Kokain mit

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