Scherbenmond
ihnen. Die Jungen biederten sich bei ihr an, knufften sie mit ihren Schnauzen und hängten sich an ihr Maul, um Essen zu erbetteln. Sie schüttelte sie mit einer einzigen resoluten Bewegung ab und sie trollten sich fügsam.
Als Letztes folgte der Rüde. Die Wölfe fanden zusammen und positionierten sich im Halbkreis um mich herum. Selbst die Jungen kamen zur Ruhe, hockten sich auf ihre Hinterläufe, ließen mich aber nicht aus dem Visier, die Ohren wachsam aufgestellt, die Mäuler leicht geöffnet.
Doch einer fehlte noch. Die Sonne leuchtete ihn von hinten an, während er mit federnden, ausgeruhten Schritten aus dem Dickicht trat - nun nicht mehr auf allen vieren, sondern aufrecht und gesättigt. Die Wölfin kauerte sich winselnd nieder und bettete ihren Kopf auf die Vorderpfoten, ohne ihre gelben Augen von ihm abzuwenden. Nur der Rüde legte seinen Kopf in den Nacken und heulte ein letztes Mal - ein lang gezogener, dunkler Ruf, den ich niemals in meinem Leben vergessen würde. Dann, wie auf ein Kommando hin, das nur sie wahrnehmen konnten, erhoben sie sich und trabten lautlos an Colin und mir vorbei in den Wald hinein. Die Wölfin streifte vertrauensvoll sein Knie. Nachlässig, aber liebevoll strich er ihr im Gehen über den Kopf.
»Ich möchte dir für deine Treue danken«, raunte er, als er vor mir stand und ich staunend über seine neu erblühten Wangen tastete. Er war noch immer nicht gesund, aber satt und er hatte in ihnen offenbar ein Gegengift gefunden. Sie hatten es ihm geschenkt. Sanft umgriff er mit beiden Händen meinen Hinterkopf, um seine Stirn an meine zu drücken. Ich erschlaffte sofort und rutschte an seine Schulter, wo er mich sicher und geborgen hielt - so sicher und geborgen, wie mein Vater mich in der einsamen Hütte gehalten hatte, umgeben von der eisigen Polarnacht. Mama war zum Greifen nahe. Vor mir schimmerte Pauls brauner Schopf wie ein bronzener Helm in dem flackernden Licht des Kaminfeuers. Das Wasser lief in meinem Mund zusammen, denn im ganzen Raum duftete es nach frisch gebackenen Waffeln und ich freute mich darauf, sie zu essen, obwohl ich genau wusste, dass ich vorher einschlafen würde, an der Brust meines Vaters, der mir durch seine unerschütterliche Gewissheit, das Richtige zu tun, immerzu das Richtige, eine Kraft verlieh, die ich mein Leben lang brauchen würde. Ohne sie würde nichts gelingen und alles schwerfallen.
»Du hast sie mir zurückgegeben«, wisperte ich. »Meine Erinnerung. Sie ist da. Ich kann sie sehen, direkt vor mir.«
»Ich hatte es dir versprochen«, entgegnete Colin lächelnd. Sein Zahnfleisch hatte wieder seine normale Farbe angenommen und die glänzenden Haare wanden sich knisternd über seine spitzen Ohren. Doch in seinem Lächeln erkannte ich eine Traurigkeit, die mir sehr vertraut war. Ihm fehlte meine Erinnerung. »Du musstest nur ein wenig Geduld haben. Du kannst gehen. Geh, Ellie.«
»Gehen? Jetzt? Hast du einen Knall? Ich will erst noch einiges wissen, mein Freund. Erstens: Wieso hast du mir die Erinnerung nicht schon zurückgegeben, als ich bei dir auf Trischen war und du die Wale gefunden hattest? Du warst satt wie nie zuvor! Warum erst so spät?«
Colin senkte bedauernd den Kopf. »Das wollte ich, Ellie. Aber dann wurde mir klar, dass François ein Wandelgänger war und der Kampf schwierig werden würde. Sehr schwierig.«
»So schwierig, dass du mich gleich mal mit töten wolltest? Brauchtest du das, um dich anzuheizen?«
»Nein.« Dieses Nein klang so fest und klar, dass es meinem Zorn für einen Moment die Nahrungsquelle nahm. »Mein Plan für den Kampf nahm bereits auf Sylt Gestalt an. Alles, was dich wütend machen würde, war nur recht und billig. Geiz gehörte dazu. Am ersten Abend aber habe ich sie dir nicht zurückgegeben, weil sie mich menschlicher werden ließ, und das erleichterte es dir vielleicht, mit mir zu schlafen. Denn das hattest du ja vor, oder?«
Er lächelte nicht mehr. Ja, das hatte ich vorgehabt.
»Und warum wolltest du mich nun töten? Erst Beischlaf, dann Tod - ist das so bei euch Mahren?« Ich klang vorwurfsvoller, als ich beabsichtigt hatte. Das Unverständnis über sein Verhalten bohrte wie ein entzündlicher Stachel in mir. »Tillmann hat mir den Brief gezeigt, aber ich verstehe es nicht!«
»Genau das wollte ich erreichen«, entgegnete er nachdrücklich. »Dass du nichts mehr verstehst. Ellie, wenn ich dich hätte töten wollen, wäre es mir ein Leichtes gewesen. Aber du lebst, oder? Komm, folge mir. Die
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