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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Stunden hatte ihn um Jahre altern lassen. Ein Stich fuhr durch meinen Bauch, als ich ein, zwei weiße Haare an seinen Schläfen entdeckte. Wir wussten alle, wem sie zuzuschreiben waren. Solange es nur dabei blieb, konnte Paul von Glück reden. Doch ich fürchtete, dass der Befall tiefere Narben hinterlassen hatte, die lange Zeit nicht heilen würden. Vielleicht auch niemals.
    »Was hast du jetzt vor?«, fragte Gianna. Was immer es ist - tu es nicht, sagte mir ihr Blick. Ich brauchte nicht großartig zu überlegen. Das, was nun getan werden musste, war allein meine Aufgabe.
    »Wir können ihn hier nicht befreien«, sagte ich gefasst. »Zu riskant. Vier Seelen würden seinen Hunger nur anheizen. Auf einen von euch würde er sich stürzen - mindestens auf einen. Ich bringe ihn in den Wald. Helft mir, ihn von der Ladefläche zu holen.«
    Wir zogen Colin gemeinsam aus dem Wagen. Obwohl wir eine Decke über seinen verkrümmten Körper geworfen hatten, machte Gianna ein Gesicht, als hätte sie ihre Arme lieber in Salzsäure getaucht, als Colin anzurühren. Auch ich hätte meine eigene Großmutter ohne Zögern gegen ein paar Handschuhe eingetauscht. Colin war hochgradig entstellt. All die violetten Adern hatten sich zu Wülsten gebündelt, die seine Haut wie bösartig mutierte Wucherungen ausstülpten. Seine Lippen hatten sich weit über das schwarze Zahnfleisch geschoben. Doch ich konnte das Rauschen seines Blutes hören, schwach und ohne jeglichen gesunden Rhythmus.
    Ich wickelte den längsten Strick ein Stück weit von Colins Händen ab, verknotete ihn neu und legte sein Ende prüfend über meine Schulter. Ja, das musste reichen.
    »Bleibt hier. Schlaft euch am besten aus.« Ich machte eine Pause, um meine Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Ich komme zurück, wenn er satt ist. Oder ...« Ich lächelte unter Tränen. »Jedenfalls essen wir dann Bagels.«
    »Sollte nicht einer von uns mitgehen?« Tillmann trat vor. »Ich würde mich anbieten.«
    »Nein«, erwiderte ich, obwohl alles in mir »Ja!« schrie. Ja, bitte bleib bei mir. »Es hat keinen Sinn. Wir müssen die Zahl der potenziellen Opfer reduzieren, so gut es geht.« Das klang herrlich mathematisch und ich fühlte mich sofort ein wenig besser. Doch es war nicht nur die kühl kalkulierte Opferrechnung, die mich dazu zwang, den letzten Weg allein zu gehen. Es war auch die Tatsache, dass die anderen sich vor Colin ängstigten und ekelten.
    Auch ich fürchtete mich vor ihm - nicht kopflos, nein, das nicht. Es war keine Todesangst wie vorhin. Vielmehr eine der Situation angemessene Furcht. Ekel verspürte ich jedoch keinen. Vielleicht half es ihm, dass jemand bei ihm war, den er nicht abstieß.
    »Keine Umarmungen«, stoppte ich Gianna, die mich an sich drücken wollte. »Eure Duftmarken könnten ihn auf eure Spur locken, falls die Wölfe ihn nicht sättigen.« Es war eine Lüge, aber ich hätte einen tränenreichen Abschied nicht ertragen. Wir brauchten uns nicht zu umarmen, weil wir uns Wiedersehen würden.
    »Ellie, bitte nicht. Geh nicht. Bitte«, hauchte Gianna. »Wie sollen wir denn damit leben, wenn du nicht zurückkommst? Sind wir dir denn gar nichts wert, wenn du dir selbst schon nichts mehr wert bist?«
    Doch ich tat, als habe sie nichts gesagt, nahm aber schemenhaft wahr, wie Tillmann sich angespannt abwandte. Sein Atem klang zitternd. Ich schaute ihnen nicht mehr in die Augen, warf nicht mal mehr einen Blick auf meinen schlafenden Bruder, obwohl er mich vielleicht niemals Wiedersehen würde, sondern nahm den Strick, legte ihn über meine Schulter und stapfte keuchend in den Wald. Colin fühlte sich nicht schwer an, eher wie ein Insekt, dessen Körper unter seinem Chitinpanzer schon längst ausgetrocknet war. Doch der Boden war sandig und uneben und ich musste darauf achten, nicht in Kaninchenlöcher oder unsichtbare Vertiefungen zu treten, die sich unter dem dünnen Gras verbargen. Die Bäume wuchsen schon nach wenigen Metern wieder spärlicher. Die nächste Lichtung öffnete sich vor mir. Aber es war zu früh haltzumachen. Also weiter - noch eine Lichtung. Und noch eine. In der dritten lag ein kleiner Tümpel, der aussah wie eine natürliche Tränke. Ich entdeckte Hufspuren im Sand. Und markante Tatzenabdrücke. Hunde würden hier kaum leben. Sie mussten von einem der Rudel stammen.
    Mit der Erkenntnis, die Wölfe gefunden zu haben, verließen mich meine Kräfte endgültig. Der Strick hatte meinen Pulli zerfetzt und mir tief in die Schulter geschnitten.

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