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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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verstehen, warum du das alles getan hast. Ich sollte dich windelweich prügeln, aber ...«
    Anstatt weiterzureden, drückte ich meinen Mund auf seinen. Er biss blitzschnell zu und seine Eckzähne schlugen ein tiefes Loch in meine Oberlippe. Trotzdem blieb ich bei ihm. Als mein Blut über sein Kinn rann, schoss seine spitze bläuliche Zunge hervor, um es abzulecken.
    »Nanu«, murmelte ich und frisches Blut tropfte auf seine Zungenspitze, die zwischen seinen Zähnen hing wie die eines hechelnden Wolfes. »Ich dachte, es gibt Wichtigeres als Blut.«
    »In der Not frisst der Teufel eben Fliegen«, hörte ich seine Stimme in meinem Geist - nicht mehr ganz so dumpf und drohend. Und es lag ein Lächeln darin. Mein Blut tat ihm gut. Heilen konnte es ihn nicht, aber vielleicht minderte es die Gefahr, in der ich mich wähnte.
    Ich löste mit fliegenden Fingern die Knoten der Fesseln und rollte mich in letzter Sekunde zur Seite, damit seine zentimeterlangen Klauen sich in den Sand bohrten und nicht in meine Haut. Er zerrte sie jaulend zurück an seine Brust und verschränkte sie. Es musste ihn unsägliche Kraft kosten. Wütend versuchte er, sich die Spitzen seiner Krallen abzubeißen, mit denen er mich eben beinahe aufgeschlitzt hatte.
    »Kein Problem«, stotterte ich. Mein Herz raste. Er sprang auf alle viere und schüttelte sich knurrend, den Nacken tief gesenkt. Dann öffnete er unvermittelt die Augen - genau in dem Moment, als das erste Heulen durch den Wald tönte, tief und machtvoll. Und so sehnsüchtig, dass ich mit einstimmen wollte. Sie waren gekommen.
    Die Morgensonne ließ die tote Asche in Colins Blick schwach aufglimmen. Mit einer elastischen Bewegung drehte er sich von mir weg und trabte in das Dickicht hinein, als wäre er einer von ihnen.
    »Guten Appetit«, flüsterte ich, nachdem sein Schatten mit der letzten nächtlichen Schwärze des Waldes verschmolzen war. Ich begriff schlagartig, dass ich überlebt hatte, und das Schluchzen übermannte mich so heftig, dass ich meine Zähne in die Stricke drückte, um weiteratmen zu können. Es war wie ein Krampfanfall, der nicht mehr enden wollte. Minutenlang zuckten meine Muskeln. Doch meine Tränen beruhigten mich - die gute alte und so zu Unrecht verpönte Heilkraft des Weinens.
    Ja, ich hatte überlebt. Aber was war mit Colin? Konnte ich hier untätig im Sand sitzen bleiben und warten - oder gar zum Auto zurückkehren?
    Natürlich kannst du das, wies ich mich zynisch zurecht. Colin brauchte mich nicht beim Jagen. Und heilen konnte ich ihn sowieso nicht. Nein, hier ging es nicht um Gewissensfragen. Ich wollte nicht bleiben und ich wollte nicht zurück zu Gianna, Tillmann und meinem Bruder. Es war mein innigster und einziger Wunsch, den Tieren zu folgen. Nicht Colin, sondern den Wölfen. Selbst meine bohrenden Fragen verstummten und mein Verstand ließ meinen Instinkt siegen.
    Ich stand auf und schloss die Augen, um zu lauschen. Wieder erhob sich das Geheul, nicht nur eines, nein - es war ein schaurigschöner Chor, der mir einen lustvollen Schauer nach dem anderen über die Wirbelsäule schickte. Denn die tiefste der Stimmen - ein heiseres, hypnotisches Heulen - stammte nicht von einem Tier. Es stammte von Colin. Er hatte sie gefunden.
    Ich hielt meine Augen geschlossen, als ich in den Wald lief. Mein Gehör leitete mich sicher und schnell und doch ließ ich mir Zeit, genug Zeit, in der er seinen unsagbaren Hunger stillen konnte.
    Sie warteten auf ihrer Lichtung auf mich. Noch verharrten sie im Verborgenen hinter den Bäumen, aber ich roch ihr warmes Fell und die winzigen Schlammklumpen, die zwischen ihren Ballen hafteten.
    Und ich spürte all die gelben Augenpaare, deren Pupillen prüfend auf mir ruhten, als ich mich inmitten der Lichtung auf einen Stein setzte und meinen Blick weich über den Waldrand schweifen ließ.
    Die Jungen wurden als Erstes von ihrer Neugier aus ihrem Versteck getrieben und huschten verspielt um mich herum. Ein kleiner, dunkler Rüde pirschte sich mit schräg gelegtem Kopf an mich heran, um vorwitzig an meinem Knie zu schnuppern. Die anderen sahen ihm aufmerksam zu, bevor sie ihn mit tollpatschigen Tatzenschlägen zum Schaukampf aufforderten, als wollten sie vor mir prahlen.
    Dann stieß ihre Mutter dazu. Sie humpelte ein wenig und besaß nur noch ein Auge, doch ich hatte nie ein schöneres Tier gesehen. Falls Colin sie beraubt hatte - und davon ging ich aus hatte es ihr nicht geschadet. Ihre Verletzungen waren schon alt und sie lebte gut mit

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