Scherbenmond
Auch die Schnitte auf meinem Rücken hatten sich durch die Anstrengung geöffnet und fingen erneut an zu bluten. Aufstöhnend ließ ich mich zu Boden gleiten. Noch ziepten die Wunden und der Bruch im Finger nur sacht, doch meine Gleichgültigkeit meinen Blessuren und inneren Verletzungen gegenüber verlor sich langsam. Trotz meiner körperlichen Schwäche ruhte tief in mir noch das Gefühl der Unbesiegbarkeit, aber ich war nun eine Heldin, die Schmerzen spüren konnte. Und die klug genug war zu wissen, dass sie irgendwann nicht mehr würde hinnehmen können, was kurz zuvor geschehen war.
Die gefesselte Bestie neben mir gab keinen Laut von sich. Ich musterte das Bündel nachdenklich. Ich konnte feige sein. Nichts war einfacher als das. Ihn hier liegen lassen, fortrennen, zurück zum Auto, zu meinem Bruder und meinen Freunden. In den Westerwald fahren und alles vergessen.
Denn mein Verstand bäumte sich erneut gegen meine kühle, satte Ruhe auf. »Er hat dich misshandelt.« Paul hatte es auf den Punkt gebracht. Dieses Wesen hier hatte mich misshandelt und bis jetzt fiel mir kein logischer Grund ein, warum das nötig gewesen war. Das war es, was meinen Verstand nicht besänftigen konnte. Es hatte keine Logik.
Ich entfernte mich ein paar Schritte rückwärts, bis das dumpfe Schreien in Colins Körper leiser wurde.
Nachdenken, Ellie, beschwor ich mich wie so oft. Gab es eine verborgene Logik, auf die ich nur dann kommen würde, wenn ich mit ihm sprach? Konnte er es mir erklären? Warum diese Gewalt? Und warum das, was er danach mit mir getan hatte - mir suggerieren, dass er mich ertränkte, und dann, dann ... Was war es gewesen? Ein Befall? Nein. Es hatte mich gestärkt, nicht geschwächt. Verwandelt worden war ich auch nicht.
»Zu viele Fragen, Ellie. Vergiss es. Das packst du nicht«, sagte ich mir realistisch. Nein, ich würde all das - die Demütigung, das Gefühl des Verrats, die Todesangst - nicht verwinden können, wenn ich ihn jetzt alleinließ, um ihn so schwach und verunstaltet seinem Schicksal zu überlassen, ohne zu erfahren, warum es geschehen war. Und, der Teufel sollte mich holen, ich würde es mir auch niemals verzeihen. Je schwächer er war, desto stärker wurde das Böse in ihm. Wie damals im Lager ... Das konnte ich nicht verantworten. Und Colin hatte mich bisher immer gut behandelt.
Bis auf die Ohrfeige am Bach, erinnerte mich mein Gedächtnis gnadenlos. Siehst du!, hörte ich Pauls Stimme in meinem Kopf. Damals also auch schon, mischte sich Gianna dazu. Und Tillmann? Er hatte sich stets rausgehalten, war cool geblieben, hatte sich nicht gegen Colin geäußert. Er wusste mehr als Gianna und Paul. Und er würde wissen wollen, was heute Nacht passiert war. Wie ich.
Wenn ich Colin jetzt von seinen Fesseln befreite, würde er mich möglicherweise in seinem Hungerrausch töten. Oder aber er würde jagen gehen und mir anschließend erklären können, was passiert war. Und warum.
Aber selbst wenn er mich tötete (was wahrscheinlich war, denn wie hatte er letztens gesagt: »Ich bräuchte zwei Sekunden, maximal drei.«): Leben mit dem nagenden Gefühl, nicht alles zu wissen, seine Gründe nicht zu kennen, wollte ich sowieso nicht. Ich würde mich jede Nacht mit der Frage martern, ob ich nicht doch eine Chance gehabt hätte. Ob wir nicht eine Chance gehabt hätten, Colin und ich. Als Liebende. Wenigstens als Freunde.
Ich musste es darauf ankommen lassen. Unsicher und taumelnd, als hätte ich gerade erst laufen gelernt, kehrte ich wieder zu dem hässlichen Bündel zurück, das da verdreht im Sand lag, meine Hände verkrampft vor dem Bauch gefaltet, mein Herzschlag im Gleichklang meiner Schritte.
Und während ich still Abschied von der Welt nahm und dankbar war, es in der freien Natur tun zu dürfen, umgeben von Wald, Heide und einer flammend roten Himmelskuppel, registrierte ich verwundert, dass Colins Züge sich entspannten. Seine Lippen schoben sich über das Zahnfleisch, immer noch blau und gequält, doch einen Hauch fülliger, und die Adern zogen sich unter die Haut zurück. Hörte er sie schon? Spürte er etwas, wofür meine Instinkte zu stumpf waren?
Ich beugte mich über sein Gesicht. Ja, die kleinen Veränderungen reichten aus, um es tun zu können, auch wenn mein Mund immer noch eine Fratze küssen würde. Ich wollte nicht nur von der Welt Abschied nehmen, sondern auch von ihm - und zwar so, wie Liebende sich Lebewohl sagten.
»Ich werde gleich deine Fesseln lösen. Ich würde gerne
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