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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Ambiente gab es wohl kein zweites Mal auf der Welt. Es hatte Flair. Aber ich wusste genau, dass ich anders denken würde, sobald die Dämmerung hereinbrach. Dann verwandelte sich das maritime Märchen in eine düstere Schauerlegende, die ich nicht deuten konnte. Und die Dämmerung kam immer noch sehr früh.
    Rossini und ich liefen bis vor an den Sandtorkai, kreuz und quer über die Brücken. Es war kalt, doch die Sonne schien und die Luft roch so intensiv nach der See, dass mich ein jäh aufflackerndes Fernweh zum Seufzen brachte. Ich musste an die düsteren Fjorde und nordischen Eislandschaften denken, die wir bereist hatten, an unsere dunklen Urlaube in eingeschneiten Hütten und der Polarnacht, weitab von der nächsten menschlichen Siedlung und für Paul und mich immer wieder ein gigantisches Abenteuer. Das offene Meer mit Blick bis zum Horizont hatte ich jedoch noch nie erlebt. Und auch hier blieb es mir verwehrt. Ob Papa es bewusst gemieden hatte, weil es ihn zu sehr an die Kreuzfahrten und damit auch an seinen Befall erinnerte? Oder barg es zu viel Licht? Wie musste es wohl aussehen, wenn die Sonne den Ozean zum Glitzern brachte und sich ihre Strahlen in seinen Abertausend Wellen brachen?
    Am Nachmittag kam ein hartnäckiger Wind auf und trieb mich und Rossini zurück zum Wandrahmsfleet. Diesmal fand ich Pauls Wohnung sofort - ich wunderte mich darüber, wie ich mich hier hatte verlaufen können, eigentlich war es ganz einfach - und verbrachte den Rest des Nachmittags damit, Rossini darauf abzurichten, Parfums aus den Badezimmerregalen zu holen und in die Kloschüssel fallen zu lassen. Für jeden erfolgreichen Versuch bekam er ein Stückchen Fleischwurst und viel, viel Lob.
    Blieb nur noch zu hoffen, dass François seinen Klodeckel offen stehen ließ und seine Parfums nicht in verschlossenen Schränken lagerte.
    Und dass mein Bruder nicht das mit ihm tat, was ich schon den ganzen Tag befürchtete.

Apnoetauchen
    Ohne nachzudenken, sprang ich hinab, und sobald mich das Wasser umfing, schob ich meine Arme weit nach hinten, beugte den Kopf und machte mich schwer. Ich sank sofort und ich spürte weder die Kühle des Wassers noch das Salz in meinen offenen Augen.
    Ich musste Paul finden. Er war hier, am Grund des Meeres, auch wenn die anderen ihn längst aufgegeben hatten. Nur ich konnte ihn retten. Unbeirrt schwamm ich der Finsternis entgegen, die sich um mich herum ausbreitete. Da! Da war er, ja, das war Paul - aber was tat er denn? Ohne mich anzublicken, schoss er an mir vorbei. Ich hob den Kopf und sah, wie sein Körper die Wasseroberfläche durchbrach. Er war gerettet. Er würde leben. Ich sollte ihm folgen, wenn ich ebenfalls leben wollte, denn meine Luft wurde knapp.
    Doch ein helles Flimmern unter mir zog mich weiter abwärts. Es war ein Stück Papier, das sich über dem aufgewirbelten Sand des Meeresgrundes wellte - ein Papier, beschrieben von Colins Hand, Zeilen über Zeilen, zusammengesetzt aus seinen geschwungenen, eleganten Lettern, die ich so sehr liebte. Ein Brief für mich ...
    Ich wollte nach ihm greifen, aber er glitt mir immer wieder durch meine Finger. Blubbernd entwich die letzte Luft aus meinen Lungen. Mit einem kraftlosen Stoß meiner tauben Beine versuchte ich, dem Brief nachzuschwimmen, doch unter mir tat sich eine klaffende Spalte auf und er trudelte in die Schwärze des Ozeans hinab, ohne dass ich ein einziges Wort hatte lesen können.
    Nun will ich nicht mehr, beschloss ich müde. Es hat keinen Sinn. Und ertrinken tut nicht weh. Es ist sogar angenehm. Ich besiegte meine Instinkte und atmete tief ein. Das Wasser strömte kühl in meine Kehle und ich wartete geduldig darauf zu sterben. Wie würde es sein? Schon begannen meine Gedanken zu ermatten, wurden schläfrig und wirr. Noch einmal sog ich das Wasser ein. Mein Herzschlag verlangsamte sich. Ein Schlag ... und noch ein Schlag ... ein Atemzug Wasser ... Dauerte es so lange zu sterben?
    Nein, verdammt, nein - nein, das war noch nicht alles! Das konnte nicht alles gewesen sein! Panisch riss ich meinen erschlaffenden Körper in die Senkrechte und streckte die Arme hinauf zur Wasseroberfläche, so weit weg, sie war viel zu weit weg ... Schon griff die Schwärze auf mich über, raubte mir die Sehkraft, obwohl ich mein Herz dumpf schlagen hörte, es kämpfte, meine Beine strampelten wild, wo war die Sonne? Wo war die Luft? Ich würde es nicht schaffen - ich würde ertrinken. Jetzt.
    »Nein! Ruhe! Sei still!« Wütend fuhr ich auf und presste

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