Scherbenmond
die Hände auf meine Ohren. Sie dröhnten, als hätte mir jemand eine beidseitige Ohrfeige verpasst, und der Lärm meines ungestüm polternden Herzens ließ mein Trommelfell schmerzen. Ich lebte. Ich war in Pauls Spielzimmer. Alles gut. Nur geträumt. Doch noch immer hatte ich das Gefühl, nicht frei atmen zu können. Ich riss das Fenster auf und lehnte mich weit hinaus. Der Wind hatte sich gelegt. Es roch nicht mehr nach der See, sondern so faulig und verwesend, als würden Metzgerabfälle in den Fleeten entsorgt. Zäh und mit spiegelglatter Oberfläche floss das Wasser unter mir dahin. Der Mond verbarg sich hinter einem tief hängenden Dunstschleier, der jedes Geräusch erstickte. Die nächtliche Totenstille hatte sich wie ein alles vergiftender Smog über die Speicherstadt gesenkt.
Aber was hatte mich dann geweckt? Zitternd atmete ich ein und hob instinktiv die Hände an, um sie erneut auf meine Ohren zu pressen, als François’ Stimme durch die Wohnung schallte. Ich lachte tonlos auf. Frage beantwortet.
»Du wirst dir ja wohl nicht wegen einer Tunte in die Hosen machen, Ellie«, wies ich mich wispernd zurecht. François’ nölende Stimme verstummte, dann winselte der Hund und Paul sagte etwas. Richtig, der Hund - er war weg! Gegen Mitternacht hatte ich sein hohles Gefiepe nicht mehr ertragen, ihn zu mir genommen und auf meinen Füßen einschlafen lassen. Hatte François Rossini etwa selbst aus meinem Zimmer geholt? War er bei mir gewesen, eben noch? Von einem jähen Kälteschauer gepackt, griff ich nach meiner Bettdecke und zog sie mir fest über die Schultern. So wie ich die Unruhe im Korridor deutete, waren Paul und François gerade erst nach Hause gekommen.
Ich kroch zurück auf mein Bett. Das Fenster ließ ich geöffnet. Eine irrationale Angst, nicht atmen zu können, trieb mich dazu, obwohl ich bereits am ganzen Körper schlotterte. Sofort zog der rauchige, feuchte Dunst in mein Zimmer und ließ die Konturen der Scheußlichkeiten auf Pauls Regalbrettern verschwimmen. Noch einmal jaulte Rossini auf und die Haustür klappte. Nun hätte entweder der Aufzug zu quietschen beginnen müssen oder Schritte von der Treppe ertönen. Doch ich hörte nichts. Blieb Francois heute Nacht hier und hatte eben nur die Haustür zugezogen? Und schlief er bei Paul im Zimmer unter dem wunderhübschen Überwurf, den er ihm geschenkt hatte?
»Pfui«, murmelte ich angewidert. Das war dann wohl der schlussendliche Beweis dafür, dass Paul am anderen Ufer angekommen war. Warum das so war, konnte ich immer weniger verstehen. Nein, ich konnte es weder verstehen noch glauben. Es konnte nicht sein. Von mir aus hätte es sein dürfen, jeder Jeck, wie er will. Aber was mich maßlos an der Sache irritierte, war die tief sitzende Gewissheit, dass es ein kolossaler Irrtum war.
Ich versuchte, die Angelegenheit so logisch wie möglich zu betrachten. François betrieb mit Paul zusammen eine Galerie, okay. Das alleine bedeutete gar nichts. Er war auf Pauls handwerkliches Geschick angewiesen - das machte aus den beiden noch lange kein Liebespaar. Er hatte ihm einen Überwurf fürs Bett geschenkt (dem Paul allerdings nicht allzu große Bedeutung beimaß, und ich sollte es auch nicht tun). Er hatte ihn Hase genannt... Nein, ich brauchte einen Beweis.
»Dann schauen wir doch mal«, murmelte ich, stand auf und tapste auf Zehenspitzen zur Tür. Ich wollte die beiden nicht in flagranti erwischen, denn das war nicht unbedingt das Bild, das mir zu schöneren Träumen verhelfen würde. Aber einen kurzen Blick ins Schlafzimmer zu werfen war nun mal die einzige Möglichkeit, meine Theorie zu überprüfen und hoffentlich zu entkräften.
Ich war immer noch gut trainiert im Schleichen und es glückte mir auch, die Klinke von Pauls Schlafzimmer herunterzudrücken, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Wie ich hatte Paul die beiden Flügel seines Fensters weit offen gelassen und die Bewegungen der Wasseroberfläche spiegelten sich an der hellen Decke des Raumes. Warum bewegte sich das Wasser eigentlich? Als ich eben hinuntergeschaut hatte, war es so langsam dahingezogen, dass ich seinen Fluss kaum hatte ausmachen können. Und wieso drang Mondlicht in das Zimmer? Ungläubig blickte ich über das Bett hinweg nach draußen. Tatsächlich - der Dunst hatte sich aufgelöst und der fahle Mond überzog die Speicherstadt mit einem weißlich-milchigen Schimmer.
Ein durchdringendes Keuchen vom Bett her ließ mich zusammenfahren. Mit einer hastigen Bewegung
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