Scherbenmond
glitt ich in den Schatten der Tür, doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Paul schlief und er tat es allein. François war nicht bei ihm. Dennoch empfand ich kaum Erleichterung, als ich Paul betrachtete. Er hatte die Decke so weit zurückgeschlagen, dass sie nur bis zu seinem Bauchnabel reichte. Sein Oberkörper lag komplett frei, obwohl es in diesem Raum noch kälter war als in meinem Zimmer. Pauls Hals war leicht nach hinten überstreckt, sein Mund stand offen und sein Atem hörte sich scheußlich an.
»Polypen«, stellte ich sachlich fest. »Schätzungsweise in Blumenkohlgröße.« Paul regte sich nicht. Ein gurgelnder Schnarcher entwich seiner bebenden Kehle. Wie konnte er nur so tief und fest schlafen? François hatte sich doch eben erst aus dem Staub gemacht, vor maximal fünf Minuten. Oder war das passiert, was ich fürchtete, seitdem ich diesen Raum betreten hatte - dass mir erneut mein Zeitgefühl abhandengekommen war?
Es geschah nicht zum ersten Mal, doch im Sommer war Colin daran schuld gewesen. Hier aber gab es keinen Colin. Hier gab es nur mich und meinen Bruder, der schnarchte wie ein Bauarbeiter und seine Schwester für schizoid hielt. Ein gestörtes Zeitempfinden ergänzte sich sicherlich wunderbar mit all den anderen Symptomen, die er mir unterstellte.
Ich trat ans Bett, legte meine Hände um seine kräftigen Schultern und schob ihn vorsichtig auf die Seite. Wieder reagierte er nicht auf mich. Ich fragte mich ernsthaft, warum er nicht von seinem eigenen Schnarchen aufwachte. Ich würde mich jedenfalls darauf einrichten müssen, eine unruhige Nacht zu verbringen, denn Pauls Zimmer lag direkt neben meinem und die Wand war dünn. Umso beruhigender war der Gedanke, dass François nicht bei ihm schlief. Oder mit ihm.
»Puh«, raunte ich kopfschüttelnd und zog Paul behutsam die Decke über den nackten Oberkörper. Mit einer gereizten Bewegung befreite er sich von ihr und drehte sich zurück auf den Rücken, ohne auch nur ansatzweise wach zu werden.
Trotz Pauls Schnarchen vernahm ich plötzlich ein leises Plätschern, gefolgt von dem Krabbeln kleiner, behänder Füßchen an der Backsteinmauer des Hauses. Das Geräusch näherte sich unaufhörlich. Ratten! Mit einem Satz war ich am Fenster und drückte die Flügel zu, doch sie rasteten nicht ein, sondern glitten quietschend aus ihren Angeln und rissen mich mit, sodass ich den Halt verlor und nach vorne stürzte. Ich hatte nicht einmal Zeit zu schreien. Noch in der Luft drehte ich mich zur Seite, krallte meine Finger um die Kante des Simses und stemmte meine nackten Füße gegen die feuchte Hauswand.
»Oh Gott ...«, keuchte ich. Über mir hingen die Fenster wie zwei Segel in der Luft. Beide Flügel wurden nur noch von der unteren Angel gehalten. Ich hatte die Fenster nach außen gedrückt. Wie zum Teufel war das passiert? Es hatte mich beinahe umgebracht.
Eine vorwitzige Nase schnupperte an meinen Zehen, doch nach ihr zu treten hätte mich das Leben kosten können, sosehr mich die Ratten in der Speicherstadt inzwischen auch anekelten. Ich hing mindestens zehn Meter über dem Wasser und wusste nicht, ob das Fleet tief genug war, dass ich einen Sprung überleben würde. Eine kleine Weile verharrte ich bewegungslos und dachte fieberhaft nach. Was würde mich mehr Energie kosten - nach Paul zu schreien oder zu versuchen, mich aus eigener Kraft nach oben zu ziehen?
Nein, nach Paul zu rufen war keine gute Idee. Es würde nur allzu gut in meinen vermeintlichen Symptomkatalog passen, wenn er mich fand, wie ich im Nachtgewand an der Hauswand unterhalb seines Zimmers klebte. Suizidversuch. Das brachte einem mindestens drei Tage in der Geschlossenen.
Die Ratte begann verblüffend sanft, an meinem kleinen Zeh zu knabbern, und trotz meiner misslichen Lage kicherte ich auf. Meine Fußsohlen waren entsetzlich kitzelig. Dann atmete ich tief durch, setzte den rechten Fuß ein Stück nach oben, zog den linken nach und wuchtete meinen Körper über die Fensterbank auf Pauls Fußboden. Mein Bruder schnarchte währenddessen immer noch angestrengt vor sich hin.
Auf allen vieren und am ganzen Leib zitternd kroch ich aus seinem Zimmer, schob die Tür zu und legte mich flach auf die kalten Korridordielen. Ich wusste, dass ich hier nicht bleiben durfte, nicht so lange, bis Paul aufwachte, aber für den Moment war ich froh, am Leben zu sein und nicht morgen früh als aufgedunsene Wasserleiche im Wandrahmsfleet gefunden zu werden.
Um mein rasendes Herz zu beruhigen,
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