Scherbenmond
sie überzustreifen. Er wirkte dabei ungewohnt schwerfällig. »Du hast dein Medizinstudium abgebrochen, um Bilder an die Wand zu hängen?«
Tief atmend richtete Paul sich auf und griff sich an die Brust. »Mann, ich zieh mir meine Socken an und krieg kaum noch Luft.«
»Und das mit vierundzwanzig«, vollendete ich sein Gedankenspiel trocken. Im Gesicht sah Paul jünger aus als vierundzwanzig -seine Züge waren weich und jungenhaft. Es gab sicher Frauen, die ihn niedlich fanden. Und doch sah ich einen Ausdruck in diesem Gesicht, der nicht zu seinem Alter passte. Der älter war - viel älter. Es waren keine Falten zu erkennen, keine Ringe unter den Augen, keine typischen Erschöpfungsspuren. Das Alter lag in seinem Blick und es lag in seinen Mundwinkeln. Sein Körper aber erschien mir kraftvoll und muskulös, obwohl Paul den Eindruck machte, er würde sich mit ihm herumquälen.
»Woher bekommst du diese Gemälde? Direkt aus Down Under?«, hakte ich nach.
Doch Paul war schon auf dem Weg ins Badezimmer und murmelte etwas von »dringend« und »Klo«.
Mein Bruder war also unter die Galeristen gegangen. Er half irgendjemandem aus - nicht mit seinem Kopf, sondern mit seinem handwerklichen Können. Denn von Kunst hatte Paul vermutlich nach wie vor nicht die geringste Ahnung.
Mir blieb keine Zeit, über diese Ungereimtheiten nachzudenken, da es schrill an der Tür klingelte und sich binnen kürzester Zeit eine Reihe von Ereignissen abspielte, die nahezu filmreif war.
»Gehst du bitte?«, rief Paul aus dem Bad.
Ehe ich die Tür vollständig öffnen konnte, wurde sie rabiat aufgestoßen und mir ins Gesicht gedrückt. Ein weißer, kniehoher Schatten schoss an mir vorbei in den Flur, geriet ins Rutschen und schlitterte aufjaulend gegen die Wand. Ihm folgte ein zweiter, dunkler und sehr viel größerer Schatten, der mich ebenso ignorierte wie der erste. Ich eroberte mir die Tür zurück und gab ihr einen sanften Stoß. Klickend schloss sie sich.
Vor mir stand ein hochgewachsener, magerer Mann mit knöchellangem Mantel, blond gesträhnten Haaren und Tränensäcken unter den Augen. Sein Blick streifte mich und eine Welle kalter Arroganz und Ablehnung brandete mir entgegen. Unwillkürlich schüttelte ich mich, um das Gefühl der Hektik und Angespanntheit loszuwerden, das mich dabei ergriffen hatte.
Mit einem kurzen Naserümpfen beschloss er, dass ich nicht existierte, und marschierte ein paar klappernde Schritte in den Flur hinein. Sein Mantel bauschte sich hinter ihm auf wie die Schleppe eines Hochzeitskleides. Es sah so albern aus, dass ich kichern musste.
»Paul!«, rief er. »Paul! Wo bist du? Wir müssen los! Ich hab keinen Parkplatz finden können, das ist einfach grässlich hier, grässlich ... Paul?« Er rauschte in die Küche, dann in das Wohnzimmer, ins Schlafzimmer und zurück in den Korridor. »Paul!«
Der weiße Schatten hatte sich inzwischen als ein unterernährter, langnasiger Windhund entpuppt, der irgendeine Fährte aufgenommen hatte und mit der Schnauze den Küchenboden absaugte. Immer wieder geriet er auf den glatten Fliesen ins Rutschen und konnte sich nur vor einem Spagat retten, indem er mit dem blanken Hintern bremste.
»Paul, wo steckst du?«
Die Stimme des Mannes schob sich wie ein Skalpell unter meine Haut. Ihre Frequenz war schwer zu ertragen - als würde sie alle Nervenstränge rund um mein Herz zum Vibrieren bringen.
»Paul, Hase?«, nölte er.
Hase?
»Mann, ich bin am Kacken!«, tönte es gereizt aus dem Bad.
»Och, Mönsch, musst du immer so ordinär sein?«, trompetete der Mann und klapperte nervös mit einem gigantischen Schlüsselbund. »Du bist immer so schrecklich ordinär, Paul! Paul? Wir müssen lohooos!«
Ich bemühte mich nicht, mein belustigtes Schmunzeln zu unterdrücken, und grinste dem Mann direkt ins Gesicht. Doch sein Blick bestand aus purer Verachtung. Angewidert sah er an mir herunter, um sich sogleich abzuwenden und mit seinen Fingern an die Badezimmertür zu trommeln.
»Mein Jaguar steht in zweiter Reihe! Hast du an den neuen Rahmen gedacht? Du musst auch noch die Leuchten anbringen ... und die Preislisten drucken lassen ... Paul, die Zeit rennt!«
Die Spülung rauschte.
»Ach, dass der immer so lange braucht zu allem! Der braucht so lange!«, rief der Mann, ohne mich dabei anzusehen. »Und in seinem Schlafzimmer sieht’s wieder auuuuus ... Wo ist denn der schöne Überwurf, den ich dir geschenkt habe, Paul?«
Ungeniert starrte ich ihn an. Überwurf?
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