Scherbenmond
in der winzigen Küche stand und Waffeln backte. Sie dufteten so köstlich, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief.
Wir waren gerade erst von einem Spaziergang durch den Schnee zurückgekehrt. Ich hatte gefroren, bis ich vor Schmerzen geweint hatte und die Tränen auf meinen Wangen zu Eis erstarrten. Doch jetzt war alles wieder gut. Paul spielte vor dem Kamin mit seinem Arztkoffer und nähte meinem Teddy sein rechtes Bein an, das er heute Morgen ausgerissen hatte - wahrscheinlich nur zu diesem Zweck. Wir hatten uns fast die Köpfe eingeschlagen. Doch wir waren Bruder und Schwester und schafften es nie, länger als zwei Stunden böse aufeinander zu sein.
Papa hatte eine seiner alten Platten aufgelegt, ich kannte sie, und obwohl ich die Worte nicht verstand, summte ich leise mit, die Augen geschlossen, meinen Kopf in Papas Armbeuge gekuschelt, bis die Müdigkeit mir die Stimme stahl und mich immer schwerer werden ließ.
Ich würde das Waffelessen verschlafen, doch das machte nichts, ich war bei Mama und Papa und Paul - es gab keinen besseren, geschützteren Platz auf der Welt als Papas kühle und trotzdem so warme, starke Brust...
Nun gab sie nach. Ich rutschte zur Seite und mein Gesicht prallte gegen einen nackten Schulterknochen, ausgemergelt und bleich. Die Haut spannte sich grün schillernd über die dünnen Muskeln. Erschrocken holte ich Luft und musste im selben Augenblick würgen. Es roch widerlich süß nach Verwesung und Fäulnis. Es roch nach Tod. Ich wollte mit den Armen um mich schlagen, um mich zu befreien, aber ich konnte sie nicht rühren. Ich war eingepfercht zwischen nackten toten Leibern. Hohle Augen blickten mich an, starr und geweitet, in ihnen noch immer das pure Entsetzen. Manche der Fratzen wirkten überrascht, als wäre etwas geschehen, das sie nicht erwartet hätten, doch auch in ihre Mienen hatte sich das Grauen fest eingegraben. Es war ihre letzte Empfindung gewesen - das reine Grauen. Nur ich, ich lebte. Ich lebte, obwohl ich nicht mehr atmete, weil der Gestank mir beinahe die Besinnung raubte.
Plötzlich gerieten die Leichen um mich herum ins Rutschen. Ich wusste genau, dass ich mich nicht rühren durfte, nicht blinzeln, nicht zucken, sonst sahen die da unten, dass ich noch lebte, und alles würde wieder von vorne anfangen, die Experimente, das Prügeln, das Foltern ... Doch ich schaffte es nicht. Ich schaffte es nicht, weil die Leiber mich mit sich rissen und ich auf das Mädchen gedrückt wurde, in dessen Gesicht ich geblickt hatte, als es begonnen hatte. Sie hatte nach oben zu den Düsen geschaut und plötzlich verstanden, was passierte. Ein paar der Älteren sanken bereits zu Boden, weil sie schwächer waren als die Kinder. Das Mädchen aber hatte mehr Kraft übrig und schaute zu, wie die Menschen um sie herum starben, und wusste, dass es auch sie holen würde. Ich hatte gehandelt, ohne zu überlegen, und dem Mann neben mir seinen allerletzten Traum geraubt, um ihn ihr zu schenken, damit es ihr leichter fiel, und sie stand immer noch, als alle anderen längst tot waren -bis auf mich.
Ich nahm sie zu mir, zog sie an meine Brust, streichelte ihren Rücken und konnte ihr nicht antworten, als sie ihre letzten Worte sprach: »Warum stirbst du nicht?« Warum stirbst du nicht... Warum stirbst du nicht...
Schon packten schwielige Hände nach meinem Knöchel und zogen mich von dem Mädchen fort, dem ich nicht hatte helfen können. Niemandem konnte ich helfen, alles, was ich konnte, war, ihnen jeden Tag von Neuem beim Sterben zuzusehen ...
»Wach auf! Ellie, verdammt, wach auf!«
Ich hörte ihn, doch ich war nicht willens, in meinem Leben auch nur noch ein einziges Wort zu sagen, ein Gefühl wahrzunehmen, eine Regung zu erlauben. Ich wollte tot sein. Das alles hier war nichts mehr wert.
Ich ließ es mit mir geschehen, dass Colin mich aus der Hütte zerrte, in den Sturm hinaus, meinen Kopf in die Brandung tauchte, mich brutal ohrfeigte, meine Lider nach oben zwang, denn ich hegte die Hoffnung, dass er mich dabei umbrachte.
»Atme, Elisabeth, du wirst jetzt sofort atmen! Sofort, hörst du?«
Meine Lunge gehorchte ihm, doch mein Blick, mit dem ich ihn nun ansah, troff vor Hass. Ich wollte nicht atmen und mein Körper tat es dennoch. Auch ihn hasste ich. Ich wollte ihn nicht, wollte ihn nicht spüren, nicht benutzen.
Colin schleifte mich durch die Brandung zum Boot, band mich an die Eisenstangen fest, Stricke um die Brust, Stricke um die Beine. Seine Haut blühte und seine Augen
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