Scherbenmond
weißt, dass ich dich nicht allein lasse.«
Rossini tapste geduckt auf mich zu und rieb seinen Kopf an meinem Knöchel.
»Hierher, Rossini! Hierher, sofort, zack, zack«, orderte François ihn zurück, als könne ich seinen Hund mit einer hochgefährlichen Seuche anstecken. Paul stand schwer atmend auf, während François den hechelnden Rossini am Halsband zu sich zerrte, und schob mich aus der Küche. Ich sperrte mich, war aber zu ausgelaugt, um echten Widerstand zu leisten.
»Dann gib mir wenigstens eine Tablette, bitte, nur eine«, flehte ich ihn an. »Eine gegen die Schmerzen oder eine, damit ich schlafen kann. Ich halte das sonst nicht aus.«
»Was ist denn jetzt, Paul?«, kläffte François uns hinterher. Ich fuhr zusammen und sackte in die Knie, doch Paul hielt mich. »Machen wir hier weiter oder nicht? Paul, du weißt, die Leute warten auf die Kataloge, wir müssen weitermachen ... «
»Siehst du nicht, dass meine Schwester krank ist?«, erwiderte Paul mit mühsamer Beherrschung.
»Krank«, schnaubte François aus der Küche. »Krank ...«
Ich versuchte noch einmal, mich von Paul zu lösen, doch sein Griff wurde resoluter. Meine Haut brannte unter seinen Fingern und eine ungeheuerliche Wut keimte in mir auf. Er musste mich loslassen, sofort.
»Ich kümmere mich erst um meine Schwester. Fahr am besten nach Hause. Ich rufe dich dann, wenn ... wenn wir Weiterarbeiten können. In Ordnung?«
Schimpfend und zeternd rauschte François samt Hund an uns vorbei und ließ die Haustür hinter sich ins Schloss knallen.
»Ellie, so geht das nicht weiter«, klagte Paul, nachdem er mich zurück ins Bett gebracht hatte. »Und eine Tablette gebe ich dir nicht. Du hast fast zwei Wochen lang jeden Tag morgens und abends zwei
Stück bekommen - das ist für dein Gewicht eigentlich schon zu viel. Ellie, das war Morphium am Anfang, jetzt ist es Novalgin und du nimmst zusätzlich immer noch harte Schlaftabletten - das ist alles nicht für den Dauergebrauch gedacht und das weißt du!«
»Bitte, Paul, bitte!«
»Ich frag mich, was das für ein Freund ist, der dich in einen solchen Zustand versetzt, zu Unzeiten bei mir abliefert, mir befiehlt, dir Morphium zu spritzen, und sich dann nicht mehr bei dir blicken lässt«, lästerte Paul wütend. »Eigentlich könnt ihr gleich zusammen in ...« Er brach ab. »Der Typ ist mir nicht geheuer.«
Wie ich, dachte ich. Denn so war es. Paul fürchtete sich vor dem, was ich geworden war. Und deshalb musste er meinen Wunsch erfüllen.
»Eine einzige, Paul. Du bist mein Bruder, bitte ...«
»Ja, ich bin dein Bruder, aber kein Arzt. Ich kann eingebuchtet werden für das, was ich hier tue. Ich möchte, dass du in professionelle Hände kommst. Ich kann das nicht länger verantworten. Ich rufe meinen Hausarzt an.« Schon hatte Paul sein Handy aus der Hosentasche gezogen und suchte nach der Nummer.
»Nein, Paul, keinen Arzt, ich werde wieder gesund, wenn du mir noch eine Tablette gibst, nur eine ...« Damit ich nicht träume und mich nicht erinnere. Ihr habt mich nicht sterben lassen, also lasst mich wenigstens vergessen.
Denn sobald die Wirkung der Tabletten nachließ, begannen meine Schläfen erneut zu hämmern und jeder Schlag ließ die Bilder in meinem Kopf deutlicher werden - panische, entsetzte Augen, die mich anstarrten, als könne ich ihnen helfen; ich sah die blassen Kacheln an der Wand, den sterilen Boden, all die ausgemergelten, gequälten Leiber, ich roch Tod und Gas, hörte Schreie und Flehen und Wimmern. Zu laut, zu schrill. Ich presste die Augen zu und stopfte meine Finger in die Ohren, drückte die Nase in mein Kopfkissen, doch die Bilder waren übermächtig, sie jagten mich. Erst wenn die nächsten Tabletten zu wirken begannen, schwammen sie langsam davon, wurden schließlich unscharf und verloren sich in tiefgrauen, beruhigend kalten Nebelschlieren, die alles einfroren, was mir zu nahekommen konnte.
Ich wollte weiterhin dumpf vor mich hin dämmern, nichts fühlen und nichts denken, alles verschwommen und weich, sodass nicht einmal die Sehnsucht nach Colin sich durchkämpfen konnte. Sehnsucht nach einem Mann, den ich gehasst hätte, wenn ich zu solch starken Empfindungen in der Lage gewesen wäre. Aber das wollte ich nicht. Deshalb brauchte ich Tabletten. Und obwohl mein Gehirn sich anfühlte wie eine funktionslose, leere Masse, drang plötzlich ein klarer Gedanke in mein Bewusstsein: der Sandmann. Der Sandmann musste kommen.
»Ich habe einen Arzt, Paul, ruf ihn an. Ich
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