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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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... ich hätte dich wegbringen sollen, nicht diskutieren. Jetzt ist es zu spät.«
    »Du tust es also?«, wiederholte ich bang. Colin schwieg einige Augenblicke, in denen wir gebannt der grellen Sinfonie seines Körpers zuhörten. Dann nickte er. Wir mussten handeln, sonst würde er auf dem Boot über mich herfallen. Wir hatten unsere Zeit verspielt. Doch ich war zutiefst erleichtert über seine Zustimmung. Ich musste nicht wieder nach draußen auf die See.
    »Danke«, flüsterte ich. Ich durfte in der Hütte bleiben, geschützt und in Sicherheit.
    »Bedanke dich nicht. Fürchte dich«, murmelte Colin. Er ging zum Schreibtisch und griff sich einen Block und einen Stift.
    »Gib mir eine Adresse, wo ich dich hinbringen kann und du dich erholen kannst, falls etwas schiefgeht. Nicht in Kaulenfeld. Das ist zu weit weg.«
    Panik wallte in mir auf, denn mir fiel niemand ein. Obwohl - Dr. Sand vielleicht?
    »Ich habe einen Arzt kennengelernt, der ...«
    »Nein«, fuhr Colin ungeduldig dazwischen. »Bloß keinen Mediziner. Der lässt dich am Ende nicht mehr weg und mich wahrscheinlich auch nicht. Und so könnte es zu unschönen Szenen kommen. Nein. Es muss jemand sein, dem du vertrauen kannst. Eine Privatadresse.«
    »Dann bleibt nur mein Bruder. Und dort ist der Mahr. Ich habe keine Freunde in Hamburg ...« Würde es daran nun scheitern?
    Colin schüttelte gereizt den Kopf und knurrte. »Dann die Adresse von deinem Bruder. Schnell. Ich werde spüren, ob der Mahr dort ist oder nicht. Sonst muss ich dich eben doch nach Kaulenfeld fahren ... Ich bringe Paul auf keinen Fall in Gefahr. Es ist nur ein Sicherheitsseil, Ellie, mehr nicht. Für alle Fälle.«
    Ich diktierte ihm gefasst Pauls Anschrift und erwähnte, dass Paul zumindest ein halbes Medizinstudium absolviert hatte, aber nun als Galerist arbeitete. Trotz seiner neuen beruflichen Gefilde hortete mein Bruder in dem Apothekerschrank, der in seinem Schlafzimmer an der Wand prangte, ein beeindruckendes Medikamentenarsenal. Ich sorgte mich nicht darum, dass Paul sich regelmäßig bediente, denn alle Packungen waren vollständig befüllt. Er wollte diese Sachen besitzen, wie früher. Selbst leere Faltschachteln, die Mama und Papa weggeworfen hatten, hatte er aus dem Mülleimer gefischt, in seinem Kinderzimmer gelagert und die Beipackzettel gelesen wie Kinderbücher. Andere Jungs hatten Mehl und Zucker in ihrem Kaufmannsladen. Paul hatte leere Aspirinschachteln. Das Zeug in dem Apothekerschrank hatte er garantiert aus dem Krankenhaus mitgehen lassen. Vielleicht würden die Pillen jetzt zum ersten Mal Verwendung finden.
    Ich versuchte, meine Nervosität herunterzufahren. »Wo du dich erholen kannst«, hatte Colin gesagt. Nicht: »Wo du bestattet werden kannst.« Nur lebende Menschen konnten sich erholen. Paul wurde wahrscheinlich Nacht für Nacht befallen und dafür machte er sich recht gut. So schrecklich würde es also nicht werden. Außerdem bestimmte ich selbst, was ich Colin geben würde, und ich vertraute ihm.
    Colin nahm mich zu sich und drückte mein Gesicht an seine Brust. Sein Duft ließ mich schwindelig werden.
    »Ich will das nicht tun, Ellie, doch der Hunger wird immer größer und mit ihm die Gefahr, dass ich dir Schaden zufüge. Lass uns keine Zeit verlieren. Hör mir gut zu: Lehne dich an mich und denke so intensiv an diese Erinnerung, wie es dir möglich ist. Konzentriere dich nur darauf. Du musst deinen Geist verschließen, alles andere darf dich nicht erreichen. Atme ruhig. Ich werde es spüren, wenn du bereit bist, und dann werde ich sie dir nehmen und dich aufwecken. Hast du mich verstanden?«
    »Ja«, sagte ich müde und hatte das Gefühl, dass mein Körper sich bereits aufzulösen begann. Meine Lider wurden bleischwer. Gemeinsam mit Colin sank ich auf den kalten Boden hinab. Seine Arme hielten mich fest und das Rauschen in seiner Brust übertönte das Brüllen des Meeres.
    Es konnte beginnen.

Flashback
    Nun kroch die Wärme über meine Haut, zuerst ein Schauer, dann vertraut und weich wie ein Schlaflied. Ich lehnte schwer an Papas Schulter, über meinem Rücken eine wollene Kuscheldecke. Nur ab und zu öffnete ich meine Augen, um mich davon zu überzeugen, dass es draußen vor dem kleinen Fenster noch schneite. Denn ich liebte es, den Flocken zuzusehen, wie sie herrlich trudelnd im Schein der Petroleumlampe durch die Winterschwärze der Polarnacht torkelten - fast wie in einem Märchen. Und ich liebte es, danach einen kurzen Blick auf Mama zu werfen, die

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