Scherbenmond
meinen Mantel um meinen Bauch, damit er nicht sehen konnte, wie mager ich war. Seinem forschenden Blick, den ich so deutlich auf meinem Gesicht spürte, dass ich errötete, wich ich aus. Ich wollte nur weg hier. Aber warum fühlte ich mich auch bei ihm im Auto nicht mehr wohl? Dieses Auto hatte ich sogar schon gemocht, als Colin mich noch wie ein lästiges Insekt behandelt hatte. Jetzt kam es mir auf einmal zu eng und zu stickig vor.
»Geh wieder zu deiner Familie, Ellie. Ich nehme dich nicht mit. Ich weiß nicht, was mich in meinem Haus erwartet. Diesmal hast du keine Chance, mich zu überreden, also versuch es gar nicht erst.« Er klang beinahe hart, so hart und abweisend wie bei unserem Kennenlernen. Doch es tat tausendmal mehr weh als damals.
»Weißt du was? Ihr könnt mich alle mal. Du, mein Bruder, meine Mutter, mein notgeiler Biologielehrer, François. Tillmann ist wirklich der Einzige, dem ich noch trauen kann.«
Colin hob fast entschuldigend die Achseln. »Mir war klar, dass du das irgendwann sagen würdest. Er hat sich ja auch ganz prächtig entwickelt, oder? Und er ist ein Mensch. Das hat etliche Vorteile.«
Der ironische, aber gleichzeitig todernste Unterton in Colins Stimme brachte mich innerlich zum Rasen - ein kalter, erstickender Zorn.
»Mag sein. Doch so einfach mache ich es dir nicht. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du mich nicht für dumm verkaufen kannst. Tessa hat ihn so werden lassen. Warum? Damit er schöner für sie ist oder schöner für mich? Vielleicht ist beides ganz praktisch. Es käme ihr gelegen, wenn er mich von dir ablenken würde!«
»Gut erkannt. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass er die bessere Variante für dich wäre«, sagte Colin, sein Gesicht eine steinerne Maske. »Ich fahre jetzt zu meinem Haus. Bitte steig aus.«
»Ich weiß, wem meine Gefühle gehören, Colin.« Aber meine Stimme bebte und ich fühlte mich wie ein Papierschiffchen im Sturm, als ich meine Worte aussprach. Hoffnungslos verloren.
»Du irrst dich, Ellie«, erwiderte Colin leise. »Genau das weißt du nicht mehr.«
Dann schob er mich sanft, aber unerbittlich aus dem Wagen, setzte Mister X auf seinen Schoß, zog die Tür zu und brauste davon.
Ich drückte mir die kalten Finger an die Schläfen, um meine Fassung zurückzugewinnen. Was meinte er nur? Ich war nicht in Tillmann verknallt. Ja, ich hatte registriert, dass er sich zu einem erstaunlich erwachsen aussehenden und vor allem attraktiven Kerl entwickelte hatte. Seine Vorzüge entgingen mir nicht. Früher hätte ich mich vielleicht sogar zu ihm hingezogen gefühlt. Aber alles, was mit Verlieben oder Schwärmen oder den Dingen zu tun hatte, die man dabei machte, war so unendlich weit weg für mich. Sah Colin das denn nicht? Oder sah er genau das und hatte Tillmann gar nicht gemeint? Sondern sich selbst?
Als ich zum Haus zurückkehrte, passte mich Herr Schütz im Hof ab.
»Kann ich mit dir sprechen, Elisabeth?« Er wollte nach meinem Ellenbogen greifen, doch ich zuckte so heftig zurück, dass seine Hand in der Luft erstarrte. Ich wies nach vorne und führte ihn ins Wohnzimmer. Mama, Paul und Tillmann saßen im Wintergarten, wo Paul Mama von seinen Ausstellungen erzählte. Sie hörte ihm angeregt zu, ohne nach seinem Medizinstudium zu fragen oder gar Papa zu erwähnen - sie spielte mit. Wenigstens etwas.
»Ich möchte in Ruhe mit dir sprechen. Allein. Ohne Zuhörer«, bat mich Herr Schütz gedämpft. Blieb also nur mein Zimmer oder das Arbeitszimmer meines Vaters. In keinem von beiden wollte ich mich mit Herrn Schütz jetzt aufhalten. Deshalb leitete ich ihn notgedrungen in unseren dunklen und eiskalten Windfang.
»Dann schießen Sie mal los. Ich bin gespannt.« Ich verschränkte meine Arme und sah ihn fragend an. »Soll ich schon mal Papas Schrankfächer für Sie frei räumen?«
Herr Schütz atmete tief durch. »Elisabeth. Deine Mutter ist sicherlich eine sehr attraktive Frau. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin. Was Mia und mich ...«
»Mia. Sie duzen sie also bereits. Erzählen Sie mir doch keinen Mist! Von wegen, Sie sind nicht ihretwegen hier!«
»Gehst du mit jedem ins Bett, den du duzt, Elisabeth?« Seine Offenheit überrumpelte mich und ich schwieg verwirrt.
»Gut, du tust es nicht«, fuhr Herr Schütz fort. »Das habe ich gehofft. Hier auf dem Land duzt man sich schneller als in der Stadt, das ist alles. Deine Gedanken entbehren jeglicher Grundlage. Was deine Mutter und mich verbindet, ist unsere
Weitere Kostenlose Bücher