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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Berufes für nicht sehr sinnvoll hielt, aber es war immerhin eine E-Mail-Adresse vermerkt. Und sie lebte in Hamburg. Ein Grund mehr zurückzukehren. Trotzdem hatte Papas Nachricht mein Gefühl der Überforderung zu einem neuen Gipfelpunkt getrieben. Und warum sagte Mama so gar nichts dazu? In Gedanken vertieft starrte sie auf die Geldbündel.
    »So langsam wächst mir das alles über den Kopf«, stöhnte ich und ließ mich auf das Ledersofa sinken.
    »Was? Was wächst dir über den Kopf?« Mama beugte sich argwöhnisch vor, um mir in die Augen sehen zu können - etwas, was ich ihr seit meiner Ankunft verwehrte. Und jetzt hatte ich mich beinahe verraten. Denn sie wusste weder von Pauls sexueller Kehrtwende noch davon, dass er meiner Meinung nach befallen wurde. Ich hatte es ihr verschwiegen, aus mehreren Gründen. Ich wollte ihre Wiedersehensfreude nicht trüben und ich wollte ihr erst recht nicht das beste Argument liefern, mich zu zwingen, hier bei ihr in Sicherheit zu bleiben. Doch ich hatte auch Skrupel, Paul zu verraten. Er selbst erwähnte François nur am Rande als »Kollegen« und schwieg sich ansonsten aus. Außerdem: Wenn ich etwas vom Befall laut werden ließ, würde es Mama nur dazu treiben, mit Paul über die Mahre zu reden, und dann konnte er Mutter und Tochter gemeinsam einliefern. Nein, ich wollte, dass er Mama für normal hielt. Es reichte, dass ich den Beklopptenstempel trug. Sonst würden wir uns noch gegenseitig zerrütten.
    »Ellie, antworte mir. Was wächst dir über den Kopf?«
    »Ach, das mündliche Abitur ... ich habe kaum gelernt und ...«
    Mama atmete erleichtert durch. »Wenn es nur das ist ... Selbst wenn du vier Punkte bekommst, wirst du insgesamt bei den Besten sein. Ellie, ich erwarte diesbezüglich nichts von dir, gar nichts. Das Einzige, was ich von dir erwarte, ist, dass du Papas verrückter Forderung nicht nachkommst.«
    Aha. Also doch. Warum sagte sie das so halbherzig? Ich hörte zwar aufrichtige mütterliche Sorge heraus, doch ihren Worten fehlte die Schärfe.
    »Ich, äh, nein. Nein, ich will studieren und ...« Ich trat ans Fenster, damit Mama mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich hasste es, lügen zu müssen. Und ich war mir sicher, dass meine Miene mich verraten würde.
    »Du willst also doch studieren?« Mama klang alles andere als vertrauensselig. Ich durfte mich jetzt auf keinen Fall zu ihr umdrehen.
    »Na ja, ich weiß noch nicht genau, was, aber ich würde gerne nach dem Abi mit Paul zurück nach Hamburg fahren und mich an der Uni umsehen. Ich möchte, dass Tillmann mich begleitet. Ich hab Herrn Schütz schon gefragt, ob das geht. Paul braucht Hilfe in der Galerie.« Paul braucht Hilfe beim Schlafen. Wir müssen seinen Mahr töten. Ich muss dich deshalb schon wieder allein lassen und anlügen.
    »Ellie ... setz dich mal zu mir.« Mama klopfte neben sich auf das Sofa. »Erzähl mir ein bisschen von Paul - wie ist seine Wohnung? Fühlst du dich wohl dort?«
    »Sie ist ganz hübsch. Geschmackvoll.« Vor allem Pauls Spielzimmer und die Ratten, die nachts an der Hauswand hochkrabbelten. Doch ich war froh, dass wir nicht mehr über Papas Auftrag sprachen. Vielleicht hatte Mama ihn gar nicht ernst genommen - oder aber sie war überzeugt, dass ich ihn sowieso nicht ausführen würde.
    Im Grunde entsprach das ja der Wahrheit. Also gab ich mir einen Ruck, ging zur Couch und nahm Platz.
    »Hat Paul denn Freunde? Oder vielleicht sogar eine Freundin? Sein Handy klingelt oft.«
    »Ich weiß nicht genau. Kann sein.« Konnte man François als Freundin bezeichnen? Er war es nämlich, der Paul am Telefon heimsuchte, wann immer ihm der Sinn danach stand. Freunde hatte Paul keine. Stimmt, er hatte gar keine Freunde. Da waren nur Francois und der hysterische Hund ... und die Geschäftskunden.
    »Er hat viel zu tun«, sagte ich ausweichend, obwohl das die nächste Lüge war. Pauls Job war ein Traum. Lange schlafen, ein Rähmchen basteln, ein paar Nägel in die Wand schlagen, Bilder aufhängen, Hände schütteln, fein essen gehen.
    »Paul hat mir gesagt, dass du sehr krank gewesen bist.« Dieser simple Satz troff nur so vor Subtext. Er hatte mindestens zwanzigtausend versteckte Botschaften und ich wollte keine davon hören.
    »Fängst du jetzt etwa auch noch damit an? Ich bin nicht verrückt!«
    »Das weiß ich doch!«, beschwichtigte Mama mich und wollte nach meiner Hand greifen. Ich stopfte sie schnell in meine Jackentasche.
    »Aber verändert bist du. Und Paul hat erzählt, dass du Colin

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