Scherbenmond
geht nicht!« Es hätten meine Worte sein können. Denn ich empfand genauso, seitdem Colin geflohen war, und erst recht, seitdem wir uns wiedergesehen hatten. Es gab keine Rückkehr zur Normalität. Trotzdem hatte ich mich den Winter über irgendwie überwinden können, zur Schule zu gehen, zu lernen, mich mit anderen Leuten zu treffen -bis zu dem Zeitpunkt, als meine Pflichten erledigt waren und Mama verkündete, dass Papa verschollen sei und wir etwas unternehmen müssten.
Tillmann aber war nicht willens, sich zu überwinden. Wie ich inzwischen erfahren hatte, war er auch vom Gymnasium in Altenkirchen geflogen und sollte nun die Realschule besuchen, wogegen er sich beharrlich wehrte. Mir war schon klar, dass ich ihn darin nicht ermuntern durfte. Doch ich wollte, dass er wieder mit mir nach Hamburg kam. Denn genau das hatte ich vor: Ich würde nach meinem mündlichen Abi erneut zu Paul fahren, selbst wenn der sich auf den Kopf stellte. Er war befallen. Ich durfte ihn nicht allein lassen. Und in Tillmanns Gegenwart fühlte ich mich nicht mehr ganz so ausgeliefert, ja, ich fühlte mich sicherer. Wenn es irgendjemanden gab, mit dessen Hilfe ich einen Mahr entlarven und stellen konnte, dann war es Tillmann. Abgesehen von Colin, doch der wagte sich ja nur in Pauls Nähe, sobald er sich vergewissert hatte, dass der Mahr abwesend war und uns nicht aus purem Futterneid allesamt abschlachtete.
In den vergangenen Tagen hatte der Mahr sich nicht gezeigt. Das zumindest hatte Colin gewittert, als er bei mir war. Aber es hatte nichts zu bedeuten. Laut Colin gab es Mahre, die sich so vollsaugten, dass sie für Tage, manchmal sogar für ein bis zwei Wochen satt und träge blieben. Manchen verschaffte es sogar besondere Lust, zu hungern und dann zuzugreifen.
Im Westerwald war Paul möglicherweise vorerst geschützt, auch wegen der vielen Orchideen und Pflanzen, die Mama als Schutzwall errichtet hatte. Sie irritierten die Mahre und störten ihre Instinkte.
Doch ich hätte meine Großmutter darauf verwetten können, dass er nicht bleiben würde. Das hier war eine Stippvisite. Nicht mehr und nicht weniger. Er würde seinem Mahr in wenigen Tagen wieder in die Arme laufen. Trotzdem brachte sein Besuch Mama ihren verlorenen Sohn zurück und mir den Zugang zum Safe.
Paul war ein guter, zügiger Autofahrer und ließ sich durch unser Dauerschweigen nicht aus der Ruhe bringen. Reden konnten Tillmann und ich schlecht miteinander, da wir nur ein Thema kannten: Tessa, Colin und meinen Vater. Von Pauls Befall wusste Tillmann immer noch nichts.
Also vertiefte ich mich in Bismarcks Bündnissystem - Gegenstand meiner mündlichen Abiturprüfung - und wurde nur dann aus meiner Lernerei aufgeschreckt, wenn François mal wieder durchklingelte und wir dank Pauls Freisprechanlage mithören mussten, was ihm so alles auf den Nägeln brannte. Und das war viel. Glücklicherweise brach die Verbindung meistens schon nach wenigen Minuten ab und wir blieben von François’ Klagen über enge, überfüllte Flieger, unqualifiziertes Sicherheitspersonal und die dicke, ungepflegte Frau, die es wagte, direkt neben ihm einen Zwiebelburger zu verdrücken, verschont. Sein letzter Anruf erreichte uns aus dem Hotel in Dubai. Paul begann, unruhig auf seinem Sitz herumzurutschen, als ihm bei François’ blumigen Schilderungen bewusst wurde, was er in diesem Moment verpasste: kilometerweite Wellnesslandschaften, marmorne Whirlpools und XXL-Wasserbetten. Dann knackte es in der Leitung, François’ Schwärmereien wurden abgewürgt und Tillmann und ich atmeten auf.
Kurz nach der Autobahnabfahrt zur Landstraße - es wurde bereits dämmrig und meine Augen müde - tauchte plötzlich ein schwarzer Schatten hinter uns auf. Ich erkannte Colins Schlachtschiff sofort. Wie ein kleines Kind drückte ich meine Nase an die Scheibe und sah mit seligem Lächeln dabei zu, wie Colin Gas gab und zum Überholen ansetzte.
Als er sich in Augenhöhe mit Paul befand, der das Gaspedal des Volvos vergeblich durchdrückte, tippte sich Colin galant an die Schläfe und zog an uns vorüber.
»Yes!«, riefen Tillmann und ich gleichzeitig und schlugen mit erhobenen Händen ein.
Paul knurrte etwas von »Porsche« und »längst abgehängt« und »reif für die Klapse, alle drei«, doch für einen kurzen Moment fühlte ich mich beinahe euphorisch. Colin war hier. Mehr musste ich nicht wissen, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich ihm überhaupt begegnen sollte. In der nächsten Biegung gelang es
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