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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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hatten mich überwältigt.
    Doch eine fehlte. Keine schlechte, sondern eine schöne. Die, die ich Colin geschenkt hatte. Ich spürte, dass da eine Lücke war, fast wie eine Wunde in meinem Gedächtnis und in meiner Seele. Dass etwas fehlte, was ich eigentlich brauchte. Doch ich wusste nicht, was.
    Konnte er sie mir nicht zurückgeben? Oder wollte er nicht?
    Trotz dieser Leerstelle war es mir wieder möglich, freier zu atmen, an den nächsten Tag zu denken und selbst die Nacht in Trischen flüchtig mit meinen Gedanken zu streifen. In der Woche zuvor hatte ich Panik gehabt, auch nur irgendeine Erinnerung an diese Nacht zuzulassen, und als Colin und ich darüber geredet hatten, war mir furchtbar übel gewesen. Jetzt konnte ich immerhin akzeptieren, dass es geschehen war, und ich konnte akzeptieren, dass ich lebte. Außerdem brauchte ich die Tabletten nicht mehr. Und ich war froh, dass Tillmann bei mir war. Besser hier im sturmschen Chaos als im Wald vor Colins Haus.
    François’ und Pauls Diskussion hatte sich inzwischen zu einem handfesten Streit gemausert, wie fast jedes Mal, wenn die beiden diskutierten. Tillmann untersuchte gerade neugierig die Gerätschaften auf Pauls Regalbrettern, als François’ nölende Stimme sich näherte.
    »Das wird Konsequenzen haben, Paul, ich warne dich! Das ziehe ich dir vom Gehalt ab! Ich war die vergangenen Tage nur deshalb nonstop unterwegs. Ich brauche dich in Dubai!«
    »Brauchst du nicht. Ich hab gestern mit denen telefoniert, die haben alles schon hergerichtet, du musst nur da sein und das tun, was du am besten kannst: den dicken Manager raushängen lassen und den reichen Tanten Puderzucker in den Arsch pusten. Ich bin doch sowieso nur dein Handlanger.« Oh. Paul war wütend.
    »Weißt du was, Paul?«, keifte François. »Du hättest die Olle längst wegschicken müssen. Du kannst eh nix für sie tun. Sie ist nicht klar in der Birne, kapierst du das nicht? Aber ich, ich brauche dich, wir sind Partner und du kommst jetzt mit! Der Flieger geht in zwei Stunden und ich muss den Hund vorher noch wegbringen!«
    »Nein. François, bitte, ich weiß, dass wir ein Team sind, doch ich hab eine Familie und meine Schwester braucht mich. Nicht du. Das ist mein letztes Wort.«
    Oho. Paul hatte eine Familie. Das war ja mal etwas ganz Neues. François wiederholte noch ungefähr fünfmal, dass und wie sehr er Paul brauche, dann fügte er sich endlich, pfiff den verstörten Rossini zu sich und ließ uns mit einem finalen Türknallen allein.
    Zwei Minuten später streckte Paul den Kopf zu uns ins Zimmer.
    »Packt eure Sachen. Wir fahren nach Hause.«

Heimaturlaub
    Nun war meine vermeintliche geistige Umnachtung also doch zu etwas gut gewesen: Sie hatte Paul dazu bewegt, mich nach Hause zu bringen. Und damit auch sich selbst. Ich hatte meine Aufträge erfüllt.
    Mit dieser Erkenntnis versuchte ich mich auf der Heimfahrt bei Laune zu halten, denn die fiel alles andere als gemütlich aus. Tillmann verbreitete eisiges Schweigen, da er sich einem Befehl hatte fügen müssen und sein Kurzausflug in die Ferne so ungewollt schnell unterbunden worden war, und das, wo er angeblich sein letztes Taschengeld in das Zugticket investiert hatte. Immerhin hatte er es getan, um mich zu sehen und mit mir zu reden. Eine plötzliche Kehrtwende, mit der ich nicht mehr gerechnet hatte.
    Ich hatte darauf gewartet, Colin noch einmal zu sehen, bevor wir abreisten, doch er zeigte sich nicht. Es gab kein Lebewohl. Ich wusste nicht, ob er sich überhaupt noch in Hamburg aufhielt oder schon wieder auf seine gottverfluchte Vogelinsel zurückgekehrt war.
    Aber nach dem Streit mit François war Paul zu keinen weiteren Diskussionen aufgelegt und zudem der Meinung, ich müsse schleunigst meiner Mutter anvertraut werden und für mein Abitur lernen. Außerdem habe er nicht die geringste Lust, sich strafbar zu machen, indem er einen davongelaufenen Teenager beherberge. Alles in allem wirkte mein Bruder eine Spur überfordert und ich konnte ihn verstehen. Ich selbst fühlte mich schon lange überfordert.
    Doch ich konnte auch Tillmann verstehen, sehr gut sogar. Während wir gepackt hatten, hatte er mir eindringlich klarzumachen versucht, warum er nach Hamburg gekommen war und nicht wieder zurück nach Rieddorf gehen konnte. Die Schule war in seiner Argumentation völlig nebensächlich; für ihn war sie ein lästiges Übel, mehr nicht. Dennoch gingen mir seine Worte nach. »Ich kann nicht weitermachen, als wäre nichts gewesen. Das

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