Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
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Am Ende der dritten Nacht, am 3. Oktober, fand Lew sich außerhalb eines von den Deutschen besetzten Dorfes wieder. Er beschloss, sich bei Einbruch der Dunkelheit davonzumachen, zog sich in den Wald zurück, hob einen Graben aus, bedeckte sich mit Zweigen und schlief ein. Ein Stechen unter seinem Knie weckte ihn. Er spähte durch die Zweige und sah, wie er dachte, einen einzelnen deutschen Soldaten mit einem Gewehr vor sich. Lew griff blitzschnell nach seiner Pistole und schoss auf den Mann. Sobald er die Kugel abgefeuert hatte, erhielt er einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Er hatte es mit zwei Soldaten zu tun: Derjenige, der ihm den Schlag versetzt hatte, hatte ihn auch mit seinem Bajonett gestochen, um herauszufinden, ob er tot oder lebendig war. Die Deutschen entwaffneten Lew und nahmen ihn mit ins Dorf.
Er war nicht der Einzige. Zehntausende von sowjetischen Soldaten waren in der ersten Oktoberwoche in die deutsche Umzingelung von Wjasma geraten. Man brachte Lew in ein Durchgangslager, Dulag 127, in den Außenbezirken von Smolensk, wo mehrere Tausend Gefangene in den unbeheizten Gebäuden eines früheren sowjetischen Militärdepots zusammengepfercht worden waren. Dort erhielt Lew wie die anderen nur 200 Gramm Brot pro Tag. Hunderte starben an Hunger und Kälte oder an Typhus, der sich ab November epidemieartig ausbreitete, doch Lew überlebte.
Anfang Dezember gehörte er zu einer Gruppe von zwanzig Gefangenen, die aus Dulag 127 in ein Spezialgefängnis bei Katyn verlegt wurden. Die Gruppe setzte sich aus gebildeten Moskauern, hauptsächlich Naturwissenschaftler und Techniker, zusammen. Sie wurden in einem Gebäude eingesperrt, das nach Lews Meinung vordem Krieg entweder eine Schule oder möglicherweise eine Klinik gewesen war. Zu beiden Seiten des Korridors lagen vier große Räume mit jeweils bis zu vierzig Gefangenen, und in einem großen Zimmer am Ende wohnten die Wärter. Die Gefangenen wurden gut behandelt: Man gab ihnen Fleisch, Suppe und Brot, und ihre Arbeitslast war relativ gering. Am Ende der dritten Woche brachte man im Saal Lews und seiner Moskauer Mitbürger ein paar gut gekleidete Russen unter, die von den Wächtern mit Wodka versorgt wurden. In einem betrunkenen Moment plauderte einer von ihnen aus, dass sie als Spione ausgebildet worden seien; gerade hätten sie hinter den sowjetischen Linien gearbeitet und würden nun gut belohnt. Ein paar Tage später reisten sie nach Katyn ab.
Kurz darauf verlegte man Lew und ein halbes Dutzend weiterer Moskauer an die Spionageschule in Katyn. Sie wurden von einem deutschen Hauptmann empfangen, der fließend Russisch sprach. Er schlug ihnen vor, sie zu Spionen zu machen und dann nach Moskau zurückzuschicken, wo sie Informationen für die Deutschen sammeln sollten. Nur so könnten sie dem fast sicheren Tod im Dulag 127 entgehen, wohin sie bei einer Weigerung zurückkehren müssten. Lew war entschlossen, nicht für die Nazis zu arbeiten, doch er fürchtete sich, dies vor den anderen Gefangenen zum Ausdruck zu bringen, weil er dann womöglich antideutscher Propaganda bezichtigt und strenger bestraft wurde. Deshalb erklärte er dem Hauptmann auf Deutsch (diese Sprache hatte er an der Universität gelernt): »Ich kann diese Aufgabe nicht erfüllen.« – »Warum nicht?« – »Das erkläre ich nachher.«
Nachdem der Hauptmann ihn in ein separates Zimmer geführt hatte, fuhr Lew auf Russisch fort: »Ich bin Offizier der Russischen Armee und kann nicht gegen sie und gegen meine eigenen Kameraden handeln.« Der Hauptmann schwieg und schickte Lew zurück in dessen Zelle. Dort entdeckte Lew, dass drei andere Männer sich ebenfalls geweigert hatten, Spione zu werden. Hätte Lew das Angebot als Erster abgelehnt, wäre ihm vielleicht der Vorwurf gemacht worden, er habe sie zu ihrem Widerstand ermutigt.
Die vier Rebellen wurden auf der Ladefläche eines offenenLastwagens über die Schnellstraße in Richtung Smolensk transportiert. Ein deutscher Wächter saß mit dem Rücken zum Fahrer vor ihnen und machte sich ständig an seinem Gewehr zu schaffen. Der Laster bog in den Wald ab, und Lew rechnete damit, erschossen zu werden. »Der Wagen raste einen schmalen Waldweg entlang«, erinnerte er sich. »Ich nahm an, dass man uns zu einer Hinrichtungsstätte brachte. Darum überlegte ich: Wie werde ich mich vor dem Erschießungskommando verhalten? Werde ich genug Selbstbeherrschung besitzen? Wäre es nicht besser, mich selbst zu töten? Ich könnte aus
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