Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
Vom Netzwerk:
sich absichtlich in den Finger, um in die Lagerklinik geschickt zu werden, wo ein russischer Gefangener als Arzt diente. Ohne Fragen zu stellen, folgte der Arzt Lews Bitte und gab ihm Desinfektionsmittel, Aspirin und Verbandsmaterial.
    Die vier Männer entkamen in der Nacht des 22. Juni1943 , am zweiten Jahrestag des deutschen Einmarsches. Sie stiegen aus einem Barackenfenster, das sie zuvor teilweise demontiert hatten, kletterten die Mauer im Hof hinauf und durchschnitten den Stacheldrahtzaun auf der Mauerkuppe mit zwei Metallstreifen, die Lew in der Werkstatt geschärft hatte. Nachdem sie hinunter in das Feld neben dem Lager gesprungen waren, rannten sie durch die Dunkelheit in die Wälder. Die Flüchtlinge schlugen den Weg nach Norden ein, da sie vermuteten, dass die Deutschen die Suche nach ihnen in östlicher Richtung beginnen würden. Sie wanderten bei Nacht weiter und versteckten sich tagsüber. Ihre Karte war sehr schlicht – Lew hatte das Original aus einem Grundschullehrbuch kopiert –, weshalb sie sich an den Straßenschildern orientieren mussten. Als sie die Elbe erreichten, folgten sie ihr nach Osten, da Lew Angst hatte, durch den Fluss zu schwimmen. Dann umgingen sie Dresden im Süden und zogen weiter ostwärts nach Polen. »Wir hatten Trockenrationen«, erinnerte sich Lew, »aber bald beschlossen wir, sie aufzubewahren und ›uns selbst zu ernähren‹, indem wir die Vorratskeller der Bauernhäuser plünderten … Zuerst kam es mir unrecht vor, doch dann stimmte ich zu.« Nach drei Wochen wurden sie beiGörlitz an der polnischen Grenze von zwei deutschen Soldaten gefangen. Die vier bemerkten, dass die Soldaten sich ihnen per Rad auf der Straße näherten, und nahmen an, sie hätten Pistolen bei sich. Deshalb warfen sie sich in einen Graben, wurden jedoch von den Soldaten mit Hilfe der Fahrradlichter entdeckt. »So nahm unsere Reise ein albernes Ende«, erzählte Lew. »Denn die Soldaten waren nicht einmal bewaffnet.«
    Lew konnte nicht wissen, was er vorgefunden hätte, wenn es ihm je gelungen wäre, Polen zu erreichen oder die deutschen Linien zu überqueren und sich irgendwie nach Moskau durchzuschlagen. Er hatte keine wirkliche Vorstellung von der Situation in der UdSSR oder von seinen Chancen, Sweta und ihre Familie je wiederzusehen. Seit dem Moment seiner Gefangennahme hatte er keine Möglichkeit gehabt, sich zuverlässige Informationen aus Russland zu verschaffen. In Oschatz verteilte man Stifte und Papier an die Gefangenen, doch sie durften nur an Personen in den von Deutschland besetzten Territorien schreiben. Lew wandte sich einmal an die Frau eines verschollenen Mitgefangenen in Prag und fragte, ob sie etwas über ihn erfahren habe. Die Frau ließ Lew eine Antwort und sogar ein Päckchen zukommen, schrieb ihm aber, dass er wahrscheinlich mehr über das Schicksal ihres Mannes herausfinden könne als sie selbst.
     
    Sweta tappte ebenfalls im Dunkeln. Sie hatte seit Lews Verschwinden in den letzten Septembertagen 1941 nichts mehr von ihm gehört. Damals war die Lage unsicher gewesen, und niemand hatte gewusst, ob Moskau überleben würde. Die Stadt war seit Juli heftig von deutschen Flugzeugen bombardiert worden. Mehrere Male am Tag ertönten Sirenen. Die Kraftwerke waren getroffen worden, weshalb es in den Wohnhäusern keine Heizung oder Beleuchtung gab, wenngleich brennende Gebäude nachts den Himmel erhellten. Viele Menschen hausten in unterirdischen Schutzräumen. Abertausende starben. Am 1. Oktober ordnete Stalin die Evakuierung der Regierung nach Kuibyschew an der Wolga an. Panik griff um sich, denn die Bombardierung der Stadt wurde noch intensiver. EndloseSchlangen bildeten sich vor den Geschäften. Es kam zu Prügeleien um Lebensmittel und zu häufigen Plündereien, die sich auch durch Massenverhaftungen kaum unter Kontrolle bringen ließen. Berichte über den deutschen Durchbruch in Wjasma trafen erst am 16. Oktober in Moskau ein. Auf Bahnhöfen spielten sich hässliche Szenen ab, während sich die Menschen mühten, Züge nach Osten zu besteigen. Die Moskauer verfluchten die Kommunisten, als sie erfuhren, dass die Leiter der Fabriken und die Parteibosse bereits abgereist waren. Arbeiter schlugen sich mit Polizisten. Familien packten ihre Sachen und verließen die Stadt mit allen erschwinglichen Transportmitteln. Taxifahrer verlangten 20 000 Rubel für die Fahrt von Moskau nach Kasan.
    Die Moskauer Universität wurde im Oktober evakuiert. Sweta und ihre Angehörigen reisten mit dem

Weitere Kostenlose Bücher