Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Luftflotte verlor während des ersten Kriegsmorgens über 1200 Maschinen. Die meisten wurden von deutschen Bombern am Boden zerstört. Innerhalb von Stunden waren deutsche Spezialeinheiten tief in sowjetisches Territorium eingedrungen, kappten Telefonleitungen und besetzten Brücken zur Vorbereitung des Hauptangriffs.
An jenem Nachmittag rief der Komsomol der Moskauer Universität eine Versammlung im Auditorium ein und verabschiedete einstimmig den Beschluss, die gesamte Studentenschaft zur Verteidigung des Landes zu mobilisieren. Alle wollten sich freiwillig melden. Bis Ende Juni hatten sich über tausend Studenten und Dozenten bei der 8. (Krasnopresnenskaja) Freiwilligen-Artilleriedivision eingetragen, darunter rund fünfzig von der Physikalischen Fakultät. Lew war einer von ihnen. »Hier herrscht zurzeit erhebliche Verwirrung«, schrieb er Swetas Familie vom Sammelpunkt am 6. Juli. »Deshalb kann ich Euch nichts Bestimmtes über unsere Pläne mitteilen. Mehr oder weniger bekannt ist nur, dass wir hier wohnen und studieren werden, bis man uns zum Militärdienst einberuft.«
Lew war durch den Kriegsausbruch erschüttert worden. In den ersten Tagen konnte er sich nicht vorstellen, was dies bedeutete. Alles um ihn herum – seine Forschungsarbeit, sein Leben in Moskau, seine Beziehung zu Sweta – war nun ungewiss. »Wir sind im Krieg«, flüsterte er immer wieder ungläubig vor sich hin.
Obwohl Lew sich freiwillig an die Front gemeldet hatte, bereitete es ihm Unbehagen, eine verantwortliche Stellung zu übernehmen. Infolge von Stalins Terror waren die sowjetischen Streitkräfte äußerst knapp an Offizieren, und von Neulingen wie Lew wurde erwartet, dass sie Männer in die Schlacht führten. Nach einer nur zweijährigen Militärausbildung hatte Lew den Rang eines Unterleutnants erreicht, womit er einen Zug von dreißig Mann befehligen konnte, doch er hatte kein Vertrauen in seine taktischen Fähigkeiten. Schließlich erhielt er das Kommando über eine kleinere Versorgungseinheit, die aus sechs Studenten und zwei älteren Universitätsangestellten bestand. Er fühlte sich wohler, weil er Studenten befehligte, die genauso unerfahren waren wie er selbst und deshalb nachsichtiger als Soldaten aus der Arbeiterklasse sein würden, wenn er einen Fehler beging.
Lews Einheit sollte Vorräte aus den Moskauer Depots zu einem Fernmeldebataillon an der Front befördern. Unter seinem Kommando befanden sich zwei Lastwagenfahrer, zwei Arbeiter, ein Koch, ein Buchhalter und ein Lagerist. Während sie sich der Front näherten, sahen sie Szenen des Chaos, die der Propaganda der Sowjetpresse widersprachen. In Moskau hatte man gemeldet, dass die sowjetischen Streitkräfte die Deutschen zurückschlügen, doch Lew stellte fest, dass die Russen heillos flüchteten. Die Wälder waren voll von Soldaten und Zivilisten, und die Straßen wurden von Menschen versperrt, die nach Osten in Richtung Moskau zogen. Abertausende waren getötet worden. Am 13. Juli erreichte Lew die Wälder bei Smolensk, das von den Deutschen belagert wurde.
Swetik, wir leben in den Wäldern, und ich mache Hausarbeit … Ich soll alle hier verpflegen, darunter die höchsten Funktionäre, die weniger um das bitten, was sie essen wollen, als danach brüllen … Es gibt einige Vorteile, zum Beispiel relative Freiheit während der Fahrten zu den Depots. Sweta, wir haben überhaupt keine Adresse, an die Du mir schreiben könntest – niemand hier weiß, wo wir von einem Tag zum anderen sein werden. Die einzige Möglichkeit, Neuigkeiten von Dir zu hören,besteht darin, Dich bei einer unserer Heimfahrten zu besuchen. Ich weiß nicht, wann das geschehen wird.
Auf den Fahrten zwischen Moskau und der Front nahm Lew Briefe für die Soldaten und ihre Verwandten mit. Außerdem schaute er zwischen seinen Einsätzen in den Depots bei Sweta und ihrer Familie vorbei. Im Juli verpasste er Sweta einmal, fand jedoch ihre Eltern vor, die ihn »durchfütterten«, nachdem er einen Brief für ihre Tochter abgegeben hatte; das Gleiche geschah Anfang September, als Sweta an die Universität zurückgekehrt war. Für Lew war die Beziehung zu ihrer Familie fast so wichtig wie die Zeit, die er mit ihr verbrachte, denn dies verschaffte ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit. Auf einer der letzten Fahrten gab Swetas Vater ihm einen Zettel mit den Adressen von vier engen Freunden und Verwandten in verschiedenen Städten der Sowjetunion. An diese Personen sollte er sich wenden, um Sweta und ihre
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